So schön, dass es wehtut

Nein, das Christkind lebt nicht hinterm Mond, es lebt mitten unter uns. Besser gesagt: in uns. Denn wie könnten wir dieses Wesen verleugnen, das uns durch die herrlichen Kinderjahre geleitet hat. Das Christkind  – ein Wort voll Wohlgefühl und Wonne. Allein der Satz „bald kommt das Christkind“ liebkoste das kindliche Gemüt und versetzte es in Glückseligkeit .

Der Nikolaustag läutete die Zeit der Zeiten ein. Wenn der gute Mann mit dem Goldenen Buch kam, dauerte es zwar noch eine Ewigkeit bis zum Heiligen Abend, aber irgendwie war er doch langsam absehbar.

Tief beeindruckt und ein wenig furchtsam lauschten wir diesem geheimnisvollen Mann mit dem weißen Bart und dem bischöflichen Drumherum. Unglaublich, was der alles wusste, was er alles aus seinem Buch über uns erzählen konnte. So viele Details. Dass der kleine Bruder sein Rad Schraube für Schraube zerlegt und die neue Hose zerrissen hatte, dass wir beim Mensch-ärgere-dich-nicht geschwindelt oder um die Turnringe gestritten hatten. Und er ermahnte uns, dass wir nicht zu spät vom Eislaufen heimkommen sollten, dass die Buben nicht mit ihrer Schwester (mir) raufen dürften und der große Bruder künftig mehr essen müsse, damit er groß und stark werde. Aber zum Schluss sagte er, dass wir sehr liebe Kinder seien und – bis auf die erwähnten Verfehlungen – unserer Mutter viel Freude bereiteten. Unsere beiden Teenager-Cousins beobachteten die Szene und lehnten lässig am Türrahmen, hielten aber der kleinen Kinderschar gegenüber dicht. Sie ließen uns den Glauben – und damit den Zauber. Mit dem Abgang des Nikolaus’, der Überreichung des roten Sackerls und dem Verdrücken des Inhalts war die erste Hürde bis zur Ankunft des Christkinds genommen.

Je näher dieser Tag kam, desto mehr schaukelten wir uns auf und hatten große Mühe mit dem Bravsein. Es war ja sooo aufregend, schließlich hat jeder von uns das Christkind irgendwie gesehen oder zumindest gespürt. „Schnell, schau, da glitzert es, da fliegt das Christkind“, zeigte einer der großen Cousins zum Fenster. Und es glitzerte etwas am Himmel – und ich habe das Christkind gesehen. Auch die anderen Kinder auf ihre Art. Das war so. Punktum.

Für meinen großen Bruder war die Weihnachtszeit so schön, dass es weh tat. Er, ein zarter, sensibler, musischer Bub, war bis zum 24. völlig erledigt. Er war so aufgeregt, dass ihn am Heiligen Abend entweder Fieber, Bauchschmerzen, Mittelohrentzündung, Erbrechen, Kopfweh und Was-es-sonst-noch-gibt,  niederstreckten. Vor der Bescherung erreichte seine jeweilige Unpässlichkeit den Höhepunkt, um schließlich beim Ausblasen der Christbaumkerzen nachzulassen. Beim Auspacken der Geschenke konnte sich das geplagte Kind endlich erholen – und ebenso glücklich sein wie seine zwei Geschwister.

Nach etlichen maroden Weihnachtsabenden stellte unsere Mutter an einem  24. Dezember entzückt fest, dass ihr Großer völlig gesund war. Sie konnte keine Anzeichen von Übelkeit, hektischen Flecken oder grippalen Infekten feststellen. Heute wird es fein, heute fehlt ihm nichts,  dachte sie. Noch dazu schneite es – Weihnachten wie aus dem Bilderbuch sollten es werden.

Um die Kleinkinderschar –  meine zwei Cousinen, meine zwei Brüder und mich – in Stimmung zu bringen und die Zeit bis zur Bescherung zu verkürzen, wurden die  beiden Teenager-Cousins beauftragt, mit uns in den Neuschnee rodeln zu gehen. Dem kamen sie gerne nach. Aber nicht mit den langweiligen, sperrigen Schlitten, sondern mit ihren damals hypermodernen, schnittigen Rennrodeln in Trapezform, auf denen sie bäuchlings die Hänge hinunterrasten. Wir Kleinen auch. Zunächst zogen sie uns ganz harmlos durch die Gegend, bis sie endlich an ihrer Lieblingsstrecke, der steilen Friedhofsgasse, angelangt und in ihrem Element waren. Nach einigen Vorführabfahrten, bei denen wir die großen Buben bestaunten, durften wir´s auch probieren. Uns Mädchen war das nicht geheuer, auch die große Ehrfurcht, die wir den zwei Jugendlichen entgegenbrachten, machte uns nicht mutiger. Wir bestanden darauf, auf herkömmliche Weise die Rennrodeln zu benützen. Ja, war lustig, dennoch verzichteten wir auf weitere Fahrten, wuzelten uns lieber im Schnee, immer mit Blick nach oben – um vielleicht ein christkindliches Glitzern zu erhaschen.

Die Buben rodelten weiter und jubelten vor Vergnügen. Einer hatte Pech. Erraten: Es war mein Bruder. Aber nicht, weil er unsportlich gewesen wäre – oh nein, schließlich sind wir in den Bergen aufgewachsen. Und da gehörte es dazu, sich ab dem Kindergartenalter sicher auf Skiern und Schlittschuhen zu bewegen. Mein Bruder konnte bereits in der Volksschule Eislaufen wie ein kleiner Gott, Skifahren sowieso. Er hatte also Pech, weil Heiliger Abend war. Weil das Christkind kommt. Offenbar lief in ihm ein Programm ab, das Jahr für Jahr an diesem Tag auf Störung schaltete.

Es passierte bei der vierten Abfahrt. Mein Bruder landete mit dem Kopf voran an einem vom Neuschnee verdeckten Zaun. Sturzhelme trug man damals noch nicht. Das Blut spritzte aus seiner Kopfwunde und färbte den Schnee entsprechend. Wahrscheinlich brüllte er deshalb mehr vor Schrecken als vor Schmerz. Wir Mädchen begannen zu weinen, nur mein kleiner Bruder (er war erst drei) blieb gelassen. Die Cousins, deren Gesichtsfarbe plötzlich an die des Schnees herankam, überwanden den Schock, der eine hob den Buben auf, der andere sammelte Rodeln, Hauben, Schals und Handschuhe sowie die Kleinkinderschar ein. Er wies uns an, mit dem Heulen aufzuhören, uns sei ja eh nichts passiert. Der traurige Zug setzte sich in Bewegung. An der Spitze der 16-Jährige mit dem blutenden Buben auf den Armen, dahinter der 15-Jährige mit den Rodeln und vier Kindern zwischen drei und sechs Jahren. Der Weg war nicht sehr weit – Leute, die uns beobachteten alarmierten unsere Mutter. Diese wiederum den Arzt. Die Verletzung sah schlimm aus, schließlich war das ganze Gesicht voll Blut. Die Wunde war rasch genäht und das kleine Gesicht wieder bleich wie die Wand. Erschöpft wartete der Bub mit seinem dicken weißen Verband um den Kopf – wieder einmal im Bett liegend – auf die Bescherung.

Alle beruhigten sich. Aber die Blicke, die meine Teenager-Cousins von ihrer Tante (unserer Mutter)  zugeworfen bekamen, haben sie  schon ziemlich getroffen, schließlich war auch für sie Weihnachten. Der Großvater rief nach drakonischer Bestrafung und der Konfiszierung der Rodeln. Das hat die gute Tante verhindert, schließlich war ja keine Absicht dahinter. Um die Kleinkinderschar machten die Teenager-Cousins künftig einen Bogen. Zumindest was sportliche Aktivitäten anlangte.

Mein großer Bruder jedoch hatte einen Plan, den er in den nächsten Monaten verfolgen wollte. Er beschloss, nicht mehr ans Christkind zu glauben. Erstens  war er eh schon acht und zweitens hatte er genug von all den Qualen. Er führte mit den Teenager-Cousins Gespräche  – sozusagen von Mann zu Männern.

Und es funktionierte und tat überhaupt nicht mehr weh. Bei den nächsten Weihnachtsvorbereitungen half er aktiv mit und war stolz darauf, in das geheimnisvolle Tun eingeweiht zu werden. Bei der Bescherung lehnte er lässig am Türstock, beobachtete seine aufgeregten Geschwister und schaute mit wissenden Augen unsere Mutter an.

Ab diesem Abend war er nie wieder krank, wenn das Christkind kam.

 

BuchcoverMeine Geschichte im Weihnachtsbuch

„Lebt das Christkind hinterm Mond“, Verlag Anton Pustet