40 Jahre ohne einen Tag Urlaub

Erschienen in „Die ganze Woche“, Ausgabe 28 vom 10. Juli 1986

Fotos: Ernst Kainerstorfer

Wie einst der Urwald-Doktor in Afrika, betreut Dr. med. Ferdinand Bonta seit 40 Jahren die Patienten in einem rauhen Stück Österreich:

Der Albert Schweitzer aus den wilden Bergen, Teil 2

 

Drückende Hitze ist in Wildalpen in der Obersteiermark nicht spürbar. Hier in den Bergen weht stets ein frisches Lüfterl, das auch an heißesten Tagen ein angenehmes Klima schafft.

„Aber“, sagt Dr. med. Ferdinand Bonta, „das Leben kann hier sehr hart sein.“

Dr. Bonta ist jener Arzt, der seit 40 Jahren in Wildalpen seinen Dienst versieht. Wildalpen ist 203 Quadratkilometer groß. Darauf leben rund 700 Menschen . Wien ist nur doppelt so groß: Es hat fast zwei Millionen Einwohner.

„Man muss ein Idealist sein, wenn man hier als Arzt arbeiten will“, sagt Dr. Bonta, der direkt aus dem Krieg in die Gemeinde kam.

Es war im Februar 1945. Der junge Soldat Bonta hatte einen Marschbefehl nach Tirol. Er fuhr mit der Bahn und richtete es so ein, dass er in Annaberg (NÖ), wo sein Vater Bahnhofsvorstand war, vorbeikam.  Dort befand sich seine Frau in einem hilflosen Zustand: Sie erwartete ihr erstes Kind (der Ortsarzt war auf der Flucht vor den Russen).

EINMAL KAM ER ZU SPÄT Dr. Bonta zog den Soldatenrock aus und eilte zu seiner Frau, um Geburtshilfe zu leisten. Aber Bonta junior war schneller. Der Arzt und Ehemann kam zu spät. Zum ersten und letzten Mal in seiner 40-jährigen Praxis kam er zu spät zur Geburt eines Kindes, das sein eigenes war.

Nachdem der letzte Schuss gefallen war, kam auch der Annaberger Arzt zurück. Dr. Bonta musste sich nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen.

Der Arzt war damals nicht nur Mediziner, sondern auch Tröster und Freund. Heute kennt ein praktischer Arzt mehr als tausend Medikamente. Für Dr. Bonta gab’s damals gerade fünfzig. Aber er war ein Idealist, wie sein Vorbild, der Deutsche Albert Schweitzer, der im afrikanischen Lambaréné von 1913 bis zu seinem Tod 1965, als Missionsarzt wirkte. Wie Schweitzer wollte auch Bonta unter erschwerten Bedingungen helfen.

Deshalb nahm er die Stelle an, in jenem Gebiet, in dem noch „die gute alte Zeit“ herrschte. Dr. Ferdinand Bonta war auf sich allein gestellt. Kein Facharzt, keine Behörde nahmen ihm je die menschlichen Probleme ab, die sich in der Abgeschiedenheit stellten.

Im Februar 1946 wurde Dr. Bonta , wie so oft, mitten in der Nacht und bei Schneesturm in die Einschicht nach Rothwald gerufen. Dort gewährten die Menschen einem armen Flüchtling Unterschlupf, der nun schwer erkrankt war.

Als Dr. Bonta ankam, lag der 20-jährige Mann bereits in Agonie: Blinddarm. Nur eine sofortige Operation konnte das Leben des Flüchtlings retten. Dr. Bonta operierte ihn in der Holzknechthütte unter primitivsten Bedingungen. Nach kurzer Zeit war der junge Mann genesen.

„Als Arzt in einer solchen Gegend muss man alles können. Das muss man blitzartig Entscheidungen treffen und handeln, denn das nächstgelegene Spital ist 50 Kilometer weit entfernt“, sagt er. Und deshalb war er zeitlebens in allen Sparten versiert, auch in der Zahnheilkunde. Mit einem fußbetriebenen Bohrer behandelte er – auch sein eigenes Gebiss.

Dr. Bonta war eine Autorität. Was er sagte, war Gesetz. Deshalb gelang es ihm, eine Erbkrankheit in seiner Gemeinde in den Griff zu bekommen. Der junge Arzt wusste damals sehr bald, welche Menschen in Wildalpen an dieser Krankheit, die oft nur für den Mediziner erkennbar ist, leiden. „Sie ist nicht unbedingt in jeder Generation aufgetreten“, erläutert Dr. Bonta, „aber dann, in der wiederum nächsten, ist sie voll zum Ausbruch gekommen.“ Er hat die Leute aufgeklärt und ihnen gesagt, dass ihre Kinder als Krüppel zu Welt kommen könnten. Für manche eine traurige Eröffnung, kinderlos bleiben zu müssen. „Die Leute haben sich daran gehalten, und heute gibt es keinen jungen Menschen mehr, der daran leidet“, sagt der Landarzt und Seelsorger, den seine Patienten in die intimsten Geheimnisse einweihten.

IHM WURDE ALLES ANVERTRAUT Dr. Bonta hatte eine Patientin, die drei Kinder bekam. Bei jedem leistete der Arzt Geburtshilfe (eine Hebamme hat es im Ort nie gegeben). Nach jeder Entbindung verweilte Dr. Bonta noch am Wochenbett der Frau, um sie zu trösten. Denn diese Frau reagierte nicht wie andere Mütter nach einer Geburt. Sie weinte jedesmal. Noch nach dem dritten Kind quälte sie die Sehnsucht nach ihrer großen Liebe. Eine Liebe, der Dr. Bonta vor Jahren ein jähes Ende setzten musste.

Diese Frau liebte ihren Halbbruder, und der Bruder liebte sie. Die beiden hatten denselben Vater, wussten es jedoch nicht. Aber Dr. Bonta wusste es. Ihm hatte es die verstorbene Mutter des Mädchens anvertraut. „Ich musste es ihnen sagen. Das war auch für mich eine traurige Geschichte „, erinnert er sich.

Wie diese verzweifelte Frau, wandten sich viele an ihren Doktor, vor allem jene Menschen im entlegenen Rothwald. Er schlichtete Streitereien, kittete Ehen, halb ihnen die Testamente aufzusetzen und taufte provisorisch die Neugeborenen.

Dr. Bonta kam immer. Jahrein, jahraus. Tag und Nacht. Dr. Bonta war noch nie in seinem Leben auf Urlaub.

Er war immer da. Auch in den schlimmen Mangeljahren nach 1945. Das Auto, das er für die großen Entfernungen so dringend benötigte, fischte er sich aus dem Wildbach. Die Engländer, die damals das Territorium den Russen überlassen mussten, hatten den Wagen in die Salza befördert, damit er den Sowjets nicht in die Hände fiel.

MENSCHEN- UND AUCH TIERARZT Nach dem Krieg wurde der menschliche Arzt auch häufig als Tierarzt gerufen. „Sie können sich nicht vorstellen, was eine Kuh damals bedeutete. Sie war lebensnotwendig. Und es gab manche Leute, die mich eher zur Kuh, denn zu einem Familienmitglied holten“, berichtet er.

Selbstverständlich gibt es heute einen Tierarzt. Auch sind die Straßen nach Wildalpen ausgebaut. Das Ursprüngliche in dieser Gegend aber blieb erhalten. Die Landschaft rundum blieb unberührt.

Die Liebe zu diesem schönen Stück Österreich entdeckte vor 25 Jahren Albrecht von Bayern, der sich mit seiner Familie hier ansiedelte. Dr. Bonta wurde auch häufig in s Haus der Hoheiten gerufen. Eine neue Freundschaft entstand.

Und es war auch Dr. Bonta, den der Herzog vor zwei Jahren in seiner Not um Hilfe bat. Die 62-jährige Herzogin Marie-Jenke kam nicht nach Hause. Dr. Bonta machte sich auf die Suche. Er fand die Herzogin, die mit ihrem Auto in eine Schlucht gestürzt war. Der Frau konnte Dr. Bonta nicht mehr helfen. Sie war bereits tot. Dem 80-jährigen Herzog erledigte er die Formalitäten und betete mit ihm.

Dr. Bonta, 70, genießt jetzt seinen Ruhestand. Er, der den Titel eines Obermedizinalrats trägt, wird vielleicht bald seine erste Urlaubsreise antreten.

Er hat seit einem Jahr einen Nachfolger: Dr. Christian Hellmeier, 30. Der alte vertritt den jungen Doktor, wenn dieser einmal weg muss. Und der alte steht dem jungen mit Rat und Tat zur Seite.

„Merk‘ dir eines, Christian“, sagt er, „niemals die Nerven verlieren. Du musst jeder Situation gewachsen sein.“ Und Dr. Bonta erzählt noch eine Episode aus seiner Praxis:

Es war im Jahr 1968. Ein junger Mann, der sich aus Liebeskummer das Leben nahm, wurde begraben. Die Musikkapelle spielte (Dr. Bonta bläst noch heute das Flügelhorn), der Pfarrer hielt die Grabrede. Plötzlich fiel der Priester um – zum Glück zu Seite und nicht ins offene Grab hinein. Er rührte sich nicht mehr. Dr. Bonta legte sein Flügelhorn ins Gras, führte augenblicklich Herzmassagen durch und holte den Pfarrer ins Diesseits zurück.

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