DER ALBERT SCHWEITZER AUS DEN WILDEN BERGEN

Erschienen in „Die ganze Woche“, Ausgabe 28, vom 26. Juni 1986

Fotos: Ernst Kainerstorfer

Wie einst der Urwald-Doktor in Afrika, betreut Dr. med. Ferdinand Bonta seit 40 Jahren die Patienten in einem rauen Stück Österreich. 

Teil 1 der Serie über Österreichs ungewöhnlichsten Arzt

 

Die junge Frau presst die Hände gegen ihren Leib. „Aha, jetzt ist es so weit. Ich ruf‘ gleich die Rettung“, beruhigt Monika G. ihre Schwester. Sie ist Gastwirtin in dem steirischen Ort Wildalpen.

Wildalpen liegt herrlich, aber abgeschieden mitten im Hochgebirge. Im Sommer weht stets ein frisches Lüfterl, im Winter liegt monatelang meterhoch der Schnee. Dann ist die idyllische Gemeinde oft tagelang von der Außenwelt abgeschnitten.

Der 14. Jänner, der Tag, an dem bei Anna G., 23, die Wehen einsetzen, ist einer jener Wintertage, wie sie dort oben häufig sind: Es schneit pausenlos. Die Rettung kommt und kommt nicht. Der Schnee.

Die Wehen aber kommen jetzt in immer kürzeren Abständen. Die Frauen werden nervös. Obwohl der Fortschritt auch der medizinische, in Wildalpen zögernder gekommen ist als anderswo, wurden alle Kinder in den letzten Jahren im Spital zur Welt gebracht. Und Anna G. möchte auch im Spital entbinden.

Eine alte Frau, die in der Wirtsstube gerade einen Tee schlürft, mischt sich ein: „Mein Gott, macht’s doch nicht so ein Theater wegen dem Kinderkriegen. Ruft’s doch unsern alten Doktor Bonta, der hat euch allen auf die Welt geholfen.“

RETTER IN DER NOT Dr. Bonta kommt, ein athletisch wirkender Mann, der zeitlebens nie einen weißen Kittel getragen hat. Er beruhigt die aufgeregten jungen Frauen, gibt seine Anweisungen – „heißes Wasser, Leintücher, Windeln“ – und leistet Geburtshilfe – zum 801. Mal. Als die neue Erdenbürgerin den ersten Schrei tut, trifft auch die Rettung ein. Der Fahrer kehrt ohne Patientin zurück. Die junge Mutter bleibt in häuslicher Pflege und in Betreuung von ihrem Helfer in der Not:

Dr. Ferdinand Bonta, 70.

Er war 40 Jahre lang Arzt dieser Gemeinde. Aber er ist ein Mann, der den Menschen in Wildalpen nicht nur Wunden verband, Tropfen verschrieb oder Entbindungen durchführte. Er war auch ihr Berater, Richter, Notar, Spaßvogel, Geistlicher, Psychiater, Augenarzt, Zahnarzt, Gynäkologe, Heilpraktiker, Chirurg, Laborant, Apotheker, Tierarzt.

Mehr Ansehen und Dankbarkeit als Dr. Bonta genießt in Wildalpen niemand. Versteht sich, dass ihn der Bürgermeister zum Ehrenbürger erhob.

Dr. Ferdinand Bonta ist ein Landarzt, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Ein Hausarzt vom alten Schlag, der in unseren Tagen nur noch als Legende existiert. Und nach dem heute, im Zeitalter der Hektik und der Einsamkeit, die Sehnsucht wieder erwacht, die Sehnsucht nach einem helfenden Freund.

Wenn Dr. Bonta aus seinem erfüllten Leben berichtet, wenn er von der Mühsal der Menschen, von ihren Ängsten und Nöten erzählt, lustige und traurige Episoden schildert, dann wird die Sehnsucht nach dem alten Hausarzt verständlich.

WIE ER SCHAFZÜCHTER WURDE Er ist seit einem Jahr in Pension. Einige Pfarrer und ein paar Bauern sind noch seine Privatpatienten, die aus alter Freundschaft von ihm behandelt werden. Die meiste Zeit aber verbringt der Herr Doktor jetzt in einer halb verfallenen Keusche. Er zieht Schafe.

Wie er zu diesem Häusl mit einem Stall kam, ist eine eigene Geschichte.

Maria W., eine Kleinbäuerin, hatte zeitlebens unter ihrem tyrannischen Ehemann, einem Holzknecht, zu leiden. „Er war ein Trinker, verschleuderte alles Geld, schlug seine Frau“, erinnert sich Dr. Bonta, „immer wieder hab‘ ich ihm zugeredet und sie getröstet.“

Vergeblich. Der Holzknecht soff und prügelte weiter, bis er vor 15 Jahren angetrunken, beim nächtliche Heimweg in einen Tümpel fiel. Sein Leichnam befand sich in jenem Teil des Wassers, der zu Niederösterreich gehört. „Dem Gesetz nach“, so Dr. Bonta, „hätt‘ ich das den niederösterreichischen Behörden melden und den Toten nach Gaming überführen lassen müssen (auf Kosten der Witwe). Das wollt‘ ich der Frau, die so viel hat aushalten müssen, nicht antun. Also habe ich den toten mit einer langen Stange mühsam in die Steiermark befördert.“

Trost und Hilfe ein Leben lang, das hat die Frau nicht vergessen. Als sie vor zwei Jahren 84-jährig starb, hat sie ihr gesamtes (ärmliches ) Hab und Gut dem Doktor vermacht.  „Ich richte das Haus jetzt her, für meine Enkelkinder, ich hab’s ihnen schon überschrieben“, sagt Dr. Bonta.  Nachdem er noch einmal nach den Schafen geschaut hat, fahren wir mit ihm los, zur Visite. „Ist aber ein weiter Weg, 25 Kilometer, und nicht grad die beste Straße“, warnt er.

25 KILOMETER ZUR VISITE Es geht nach Rothwald. Eine schmale Sandstraße mit Schlaglöchern. Rechts erheben sich die Felswände, links vom Weg geht’s steil hinunter. Keine Leitplanken, keine Warnschilder, keine anderen Autos. Dr. Bonta: „Als ich mich hier als Arzt niederließ, gab es im Winter nur eine Möglichkeit nach Rothwald zu kommen: zu Fuß. Ich hatte aber damals schon Skier und war damit schneller.“ Früher lebten in Rothwald an die 100 Menschen. Natürlich gab’s keinen Strom und kein Telefon hier. „Um mich zu verständigen, bildeten die Leute Stafetten. Der erste lief mit den Schneetellern zum nächsten Haus, von dort wieder einer und so weiter.“ Die selbst gefertigten Schneeteller (ein netzartiges Rund, das an den Schuhen angebracht wurde) waren seinerzeit die einzige Hilfe. „Skifahren konnte damals noch kaum jemand. Ich aber bin mit den Langlaufskiern los. Drei bis vier Stunden von Wildalpen nach Rothwald, meistens mitten in der Nacht.“

Die häufigste Krankheit war in diesen Tagen die Lungenentzündung. „Für den Fall, dass einer im Winter stirbt, stand damals in jedem Haus in Rothwald ein Sarg auf dem Dachboden bereit. Die Leute mussten sich auch für den Winter mit Nahrungsmitteln eindeckten. Die Essensrationen packten sie in die Särge.“ Das Essen musste herausgenommen werden, wenn Dr. Bonta einmal nicht mehr helfen konnte. Dann kam das verstorbene Familienmitglied in den Sarg, und der blieb auf dem Dachboden bis zur Schneeschmelze. In solchen Situationen kam Dr. Bonta nicht nur als Arzt, sondern auch als Pfarrer, Leichenwäscher, Tröster und Freund.

Lesen Sie in Teil 2 über Operation in der Scheune und warum damals die Gesundheit der Kuh wichtiger war als die eigene.

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