Den Zellen auf den Grund gehen

Maria Sibilia betreibt onkologische Grundlagenforschung. Wie
die Wissenschaftlerin Karriere und Privatleben vereint.

Sie sei schon als Kind immer wahnsinnig neugierig gewesen, habe alles hinterfragt, wollte immer alles genau wissen und verstehen. Warum etwas so ist, wie es ist, und wieso was wie funktioniert. Diese unbändige Neugier ließ sie nie los. Heute ist aus dem wissbegierigen kleinen Mädchen eine große Forscherin geworden.

Universitätsprofessor Magister Doktor Maria Sibilia ist mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin und erhielt vor drei Jahren die Professur für Zelluläre und Molekulare Tumorbiologie am Institut für Krebsforschung der MedUni Wien. Dort ist die zierliche Frau mit dem üppigen Haarschopf den Verursachern von Krebszellen auf der Spur. Sie betreibt onkologische Grundlagenforschung und leitet ein Institut mit 140 Mitarbeitern.

Grundlagen

Mit ihrer Forschungsgruppe erkundet Sibilia die grundlegenden  Zusammenhänge der Abläufe in bestimmten Körperzellen und befasst sich mit den Ursachen des Tumorwachstums. Auf Basis der Grundlagenforschung können neue Wirkstoffe und Therapien entwickelt werden. „Es ist eine faszinierende Arbeit“, sagt sie, die sich ihr Leben ohne Labor nicht vorstellen kann. „Man bleibt als Forscher ein ewiges Kind und will immer ein bisschen experimentieren.“

Viel Liebe zum Detail sei wichtig – und sehr viel Ausdauer, ehe unzählige Versuche und Berechnungen ans Ziel führen und Neues entdeckt werden  kann. Maria Sibilias Interesse konzentriert sich auf den Epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor, kurz EGFRezeptor genannt. Dabei handelt es sich um ein Protein, das als wichtiger Bestandteil in allen Zellarten vorkommt. Ein Zuviel davon lässt jedoch Tumorzellen wachsen und erzeugt Krebs. (siehe Zusatzbericht unten).

Maria Sibilia ist im schweizerischen Chur als einziges Kind süditalienischer Eltern geboren und zweisprachig aufgewachsen. „Ursprünglich wollte ich Medizin studieren, habe mich aber dann für Biologie und Genetik entschieden, weil ich lieber die Ursachen der Krankheiten verstehen und weniger die Symptome behandeln will.“ Nach Abschluss ihres Studiums im italienischen Pavia kam sie 1993 nach Wien und forschte fünf Jahre am Institut für  Molekulare Pathologie. Seit elf Jahren forscht und lehrt die Mittvierzigerin an der MedUni Wien und ist Mitbegründerin des neuen Comprehensive Cancer Center Vienna.

Bei ihrer Arbeit hat die Molekularbiologin nie auf die Zeit geschaut. „Am Abend bringt man viel weiter, weil keiner mehr anruft.“ Doch seit einem Jahr  gehen ihre Uhren anders. Seit Alexander da ist. „Ich wollte immer Kinder, aber es hat sich vorher nicht ergeben“, sagt sie und drückt den Kleinen an sich. Mit seinem Vater, ebenfalls ein Wissenschaftler, teilt sie sich die Betreuung des Buben. „Mit einem Kind muss man alles gut organisieren“, so die Mutter, die  von einem Au-pair-Mädchen unterstützt wird. „Wenn ich besonders viel zu tun habe, kommen meine Eltern aus der Schweiz. Sie sind schwer verliebt in ihren Enkel.“

Die langen Arbeitsabende im Labor sind gestrichen. Frau Professor kommt jetzt pünktlich heim, damit sie sich um Alexander kümmern kann. Derzeit kann sie ihn kaum aus den Augen lassen – er klettert gerade so gern. „Wenn er dann schläft, arbeite ich noch ein bisschen.“ Wirklich weg vom Beruf war sie nie.  „Ich habe in der Schwangerschaft bis  zuletzt gearbeitet.“

Ausgleich

Große Pausen könne man sich bei einer solchen Karriere nicht leisten. „Das ist auch bei anderen so. Nach mehreren Jahren Karenz ist es sehr schwierig, wieder in den Beruf zurückzukehren.“ Die Zeit, die sie mit ihrem Sohn  verbringt, sei sehr entspannend – und das Kochen  am Abend ein schöner Ausgleich. „Nachhausekommen und Zwiebelschneiden baut so richtig Stress ab“, sagt Maria Sibilia. Und dass die Grundlagenforscherin gerne neue Rezepte ausprobiert, versteht sich von selbst.

Tumorwachstum: Falsche Signale gelangen in den Schaltkasten

Das Hauptforschungsgebiet der Wissenschaftlerin Maria Sibilia und ihrem Team ist der EGF-Rezeptor (Abkürzung für engl. Epidermal-Growth-Factor), der beim Menschen in allen Zellarten vorkommt. Dieses Molekül wird häufig in Tumoren überproduziert und mit vielen Krebsarten (Gehirn, Kopf, Hals, Haut, Brust) in Verbindung gebracht. Unter normalen Bedingungen ist der  EGF-Rezeptor ein wichtiger Bestandteil für die Entwicklung der Zellen, eine Überproduktion trägt jedoch zum Tumorwachstum bei. Den Rezeptor  vergleicht Professor Sibilia mit einer Antenne auf dem Dach: Sie befindet sich auf der Zelloberfläche und bekommt Signale von dem Satelliten, die sie nach innen zum Schaltkasten (Zellkern) bringt. Darin werden die Daten verarbeitet und wichtige Zellprozesse wie Überleben und Zellteilung gesteuert.

Veränderungen

Das Molekül ist nicht der einzige Bösewicht, der für die Veränderung der Zelle verantwortlich ist. „Eine Tumorzelle weist viele verschiedene genetische Veränderungen auf, die zusammenwirken, einander verstärken und den Tumor wachsen lassen“, erklärt die Forscherin. „Würde eine einzige Veränderung ausreichen, hätten wir alle mit Tumoren zu kämpfen. Das wäre schlimm.“ Inzwischen gibt es zielgerichtete Therapien gegen den EGF-Rezeptor,  sogenannte Kinase-Inhibitoren und Antikörper. Diese binden an die Antenne und hemmen diese. Der Rezeptor kann keine Signale mehr weitergeben. Die Tumore gehen zurück und schrumpfen. Tumore sind dreidimensionale Strukturen, eigentlich wie neue Organe, die sich im Körper bilden. „Sie bestehen nicht nur aus Tumorzellen, sondern auch aus Entzündungs- und Stromazellen und bilden außerdem ein Gefäßsystem, das das Wachstum antreibt. Es entsteht praktisch ein eigenes Gefäßnetzwerk innerhalb des Tumors, der sich weiter und weiter entwickeln kann“, erklärt Sibilia. „Um einen Tumor gänzlich zu eliminieren, ist es nicht nur wichtig, die Tumorzellen selbst zu hemmen, sondern auch die benachbarten Zellen und Strukturen. Man muss das als Ganzes sehen.“

Erschienen im Kurier am 14. November 2010

 

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