Kinder kann man nie zu sehr lieben. Aber man kann sie auf falsche Weise lieben. Und diese Art der Zuneigung ist auf Dauer für beide Seiten traurig. Die Kinder ecken überall an und haben keinen Erfolg im Leben, die Eltern sind verzweifelt, weil sie gescheitert sind.
Eine Mutter erzählt: „Meine Tochter steckte den Haarföhn in ihre Sporttasche, obwohl sie wusste, dass ich heute ausgehe und den Föhn selber brauche.“ Die Antwort der 20-Jährigen: „Also, entschuldige Mama, wer ist wichtiger, du oder ich?“
Bei der jungen Dame ist wohl etwas schiefgelaufen in Sachen Erziehung und Respekt. Sie sieht nur ihre eigenen Bedürfnisse. Die der anderen existieren nicht wirklich. Sie glaubt, alles fordern zu können, die Eltern aber nichts. Die sollen ihr bloß nicht mit eigenen Ansprüchen zur Last fallen. Warum sie und manch andere Kinder so sind? Weil sie in diese Richtung erzogen wurden, weil sie daran gewöhnt sind, stets die erste Geige zu spielen und den Ton anzugeben.
Es gibt Mütter und Väter, die auf falsche Weise lieben. „Ohne das Maß, ohne die Grenze im Blick zu behalten, die die echte Liebe ihnen auferlegt. Der Erziehungsfehler wird nie durch eine zu große Liebe verursacht. Das ,Zuviel‘ stellt hier eher eine Einschränkung oder Unvollkommenheit dar“, sagt der italienische Psychologe und Erziehungsberater Osvaldo Poli. In seinem Buch Wenn Mütter zu sehr lieben beschreibt er, wie man durch falsch verstandene Zuneigung kleine Tyrannen heranzieht. Eltern, die nie Nein sagen können und ihren Kindern alles durchgehen lassen, tun nichts Gutes.
„Die Kinder wachsen ihnen bald über den Kopf oder zu unsicheren Jugendlichen heran, die ihren Weg im Leben nur schwer finden“, so Poli. „Eine Mutter, die zu sehr liebt, ist niemals glücklich.“
Erschöpfung
Solche Mütter sind oft völlig erledigt, verzweifelt und kurz vor dem Zusammenbruch. Sie tun alles für die Kinder bis zur Selbstverleugnung und erleben dann die größte Enttäuschung von allen: Die so ersehnten, so umsorgten, so geliebten Kinder entpuppen sich nicht als der erhoffte Segen, sondern als das genaue Gegenteil. Dieses „Überlieben“ ist nicht nur Muttersache, es kommt auch bei Vätern vor. Dennoch: „Lieben kann man nie zu viel“, sagt auch KURIER-Family-Coach Martina Leibovici-Mühlberger. „Es geht um die falsche Art, wie manchmal geliebt wird. Eine Liebe, die keine Grenzen setzen kann und dem Kind zuschreibt, alles tun zu können,was es will.“ In Wirklichkeit sei diese Form der Liebe eine Vernachlässigung, das Kind werde allein und im Stich gelassen. „Eltern, die ihrer Führungsverantwortung nicht nachkommen, müssen dann mit tyrannischen Kindern auskommen, die ständig fordern.“
Haben nur die Kinder das Sagen, sei das gegen die Interessen des heranwachsenden Organismus. „Weil es eine völlige Überforderung ist.“ Die Grundlagen für dieses Verhalten liegen meist in der Psychologie der Eltern. Sie wollten damit bewusst oder auch unbewusst Defizite aus der eigenen Kindheit ausgleichen. Wollen nicht so streng und autoritär sein wie die eigenen Eltern. Nach dem Motto: „Mein Kind soll es besser haben als ich.“ Wer selbst etwa schon mit zwölf die kleinen Geschwister betreuen und den Haushalt schupfen musste, neigt später dazu, seinem Kind alles nachzutragen, dem Kind alles abzunehmen. In der Folge hat man einen jungen Menschen neben sich, der keinerlei Verantwortung übernimmt, und wenn sich Mutter oder Vater irgendwann verweigern, werfen ihnen Sohn oder Tochter vor, nicht geliebt zu werden.
Anforderung
„Obwohl Eltern es gut gemeint haben und ihrem Kind ursprünglich eine bessere Kindheit geben wollten, scheitern sie. Weil sie es nicht altersadäquat in die Selbstständigkeit und in die Anforderung entlassen haben“,meint die Psychotherapeutin.
Wie diese Kinder im weiteren Leben zurechtkommen?
„Im besten Fall werden fantastische Manipulatoren aus ihnen“, sagt Leibovici-Mühlberger. „Sind sie charmant, schlängeln sie sich durch. Sind sie das nicht, werden sie vom sozialen Bezugssystem abgelehnt.“ Im schlimmsten Fall „invalidisiert“ man solche Kinder, weil sie davon geprägt sind, dass alles für sie erfüllt wird. In der Außenwelt jedoch begegnet man ihnen ganz anders. „Dort können sie sich mit ihren illegitimen Anforderungen nicht wie gewohnt durchsetzen. Das führt dazu, dass sie sich in einer Art Symbiose mit dem Elternhaus verbinden und extrem lange Nesthocker werden“, so der Family-Coach. Und dort machen sie sich hemmungslos breit – ohne Respekt für Mutter und Vater.
Diese aber haben es dem Kind nicht anders beigebracht, haben ihre Führungsfunktion und Verantwortung nicht wahrgenommen. „Wenn ich diese Funktionen nicht lebe als Elternteil, dann versage ich in meinem Auftrag, das Kind liebevoll, klar, sicher und authentisch zu führen und zu begleiten.“ Meist
bekommen Eltern aber noch eins drauf. Ihr Kind kommt im Leben schwer voran, weil es durch sein Verhalten ständig scheitert. Spätestens mit 30 wirft es den Eltern vor, an allem schuld zu sein, denn schließlich waren ja sie für die Erziehung verantwortlich.
Übrigens: Die eingangs erwähnte Mutter hat sich gegen die fordernde Tochter durchgesetzt. Der Föhn blieb im Haus, die Tochter musste es akzeptieren. Ein erster Schritt aus der ungleichen Mutter-Tochter-Beziehung, hin zu einem Ziel, „das sich alle Mütter und Väter am sehnlichsten wünschen: ihre Kinder zu guten, starken und freien Menschen zu erziehen“, sagt Osvaldo Poli.
Erschienen im Kurier am 6. März 2011