Die Tabubrecher

Aufreger. Von Hedy Lamarrs Ekstase über Hildegard Knefs Sünderin bis zu Kim Basingers Sexspielen und homosexuellen Lovestorys – wie der Film seit Jahrzehnten sexuelle Freiheit und Toleranz fördert.

Die freizügigen Szenen im Stummfilm Ekstase riefen 1932 die  Zensurbehörden auf den Plan und machten Hedy Lamarr weltberühmt. Kurz davor war Marlene Dietrich in Männerkleidung im Streifen Marokko zu sehen. Nicht genug, dass sie Hosen trug, küsste sie auch noch eine Frau. Skandalös.

Trotzdem wurde Ikone Marlene zum Vorbild der Frauen. Joe Dallesandro wiederum stieg zum Star der Homosexuellen auf. Die männliche Muse von Andy Warhol gilt als Pionier der Schwulen-Darsteller. In den 1960er- und 70er-Jahren schockte er in Warhol-Filmen die Prüden und begeisterte die Gleichgesinnten.

Die einstigen Aufreger muten heute harmlos an. Jeder Zeit ihre Tabubrecher. Auch im TV. Dort sorgte in den 70er-Jahren eine Transparentbluse, Nina Hagens Orgasmus-Anleitungen und die Aufführung der Staatsoperette für Entrüstung des Publikums. Während der Ausstrahlung des Skandalstücks gab es 650 Anrufe.

Dancing Stars

Jede Menge Anrufe wünscht sich indes Alfons Haider. Aber andersrum. Nämlich solche, die für ihn und seinen Partner voten, wenn erstmals ein gleichgeschlechtliches Paar bei Dancing Stars auftritt. Auch ein Tabubruch, aber einer, der gelassen hingenommen wird. Spannend ist nur, wie das Männer-Paar bei den Zusehern ankommt.

Sex-Symbol

Die Sünderin war der Skandalfilm des deutschen Nachkriegskinos. Darin spielt Hildegard Knef eine Ex-Hure, die wieder anschafft, um ihrem Geliebten eine Operation zu bezahlen. Diese Rolle, für die sie sogar bespuckt wurde, verziehen ihr deutsche Sittenwächter nie. Nicht nur wegen ihrer Hüllenlosigkeit, sondern weil Tabuthemen wie Inzest, Prostitution und Sterbehilfe angeschnitten wurden. Dennoch: Die Zuschauer strömten  busweise in die Kinos.

Die kaum sichtbare Nacktszene der wunderschönen Knef dauerte nur sieben Sekunden, sieben Millionen haben sie 1951 gesehen. „Ohne werten zu wollen, haben Filme wie Ekstase, Marokko oder die Sünderin insofern Filmgeschichte geschrieben, als sie bestimmte Tabus durchbrochen haben und – etwa durch Nacktheit – große Aufmerksamkeit erregten und kommerziell erfolgreich  wurden“, sagt Viennale-Direktor Hans Hurch. „Nach Tabubrüchen erotischer oder sexueller Art haben auch andere Regisseure riskiert, bestimmte Darstellungen zu zeigen. Was zuerst ein Skandal war, wurde langsam zur Normalität.“ Ebenso wie Frauen in Hosen. Marlene Dietrich aber hat zu ihrer Zeit das Androgyne an Frauen präsentiert. „Eine bestimmte Form von Erotik, die damals ein Skandal war – und heute ein Markenzeichen ist“, so Experte Hurch, der als Beispiel Tilda Swinton nennt.

In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde in Deutschland der Aufklärungsfilm entdeckt. In Helga waren 1967 zum Entsetzen vieler Eltern erstmals im Kino Detailaufnahmen einer Geburt zu bestaunen. Die nicht vorhersehbare  Nebenwirkung der Aufklärungsfilme war der Beginn der Sexwelle. Und damit kam die Zeit des Aufklärers Oswalt Kolle und seiner Werke: Das Wunder der Liebe, Deine Frau, das unbekannte Wesen oder Liebe als Gesellschaftsspiel u.v.a.

Darauf folgte der Kassenschlager Schulmädchen-Report (1970) und viele
weitere wie Hausfrauen-, Stewardessen- oder Witwen-Report.

Porno-Modell

In Italien entstand in dieser Zeit Bernardo Bertoluccis Skandalfilm Der letzte Tango in Paris. Die Liebesspiele von Marlon Brando und Maria Schneider galten 1972 als Tabubruch. Der Film wurde als pornografisch eingestuft und verboten. Bereits 1970 sorgten die Provokationen in Stille Tage in Clichy von Henry Miller für höchste Aufregung. Der Film war lange Zeit in Frankreich, England und in den USA verboten. 1973 folgte mit Das große Fressen ein neuerlicher Schock – mit Starbesetzung: Andréa Ferréol, Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi, Michel Piccoli und Philippe Noiret gaben sich in derben  Sex-Szenen hin und feierten Fress-Orgien mit hörbaren Verdauungsgeräuschen. Das war manchen zuviel. In Kinos sollen Zuschauer in Ohnmacht gefallen sein. In Trio infernal wurde Romy Schneider 1974 endgültig ihr „Sissi“-Image los. An der Seite von Michel Piccoli brillierte sie als skrupellose Luxusfrau. Die französischen Kinoplakate warnten, dass „dieses Werk gewisse Szenen enthält, die provozierende oder verletzende Wirkung haben können“.

Homo-Szenen

Verletzend wirkte der abgründige Homo-Thriller Cruising mit Al Pacino auf die Schwulenszene. Man empfand, dass Homosexuelle in der Geschichte über einen Serienmörder zu negativ dargestellt wurden. Nicht so bei den schwulen Cowboys in Brokeback Mountain. Sie kamen gut an. Was Regisseur Ang Lee mit seiner Story um die unmögliche Beziehung zweier echter Kerle schaffte, wurde 2005 von der Kritik als grandios bezeichnet. In Milk (2008) mit Sean Penn wird die Biografie eines schwulen Politikers geschildert, der letztlich ermordet wird. Im Vorjahr machte die Homo-Komödie I love you Phillip Morris Furore, die ebenfalls auf einer wahren Begebenheit beruht. Jim Carrey und Ewan McGregor spielen die Hauptrollen.

Als Meilenstein des erotischen Kinos gilt Adrian Lynes 9½Wochen mit Kim Basinger und Mickey Rourke. Mit den Liebesszenen wurde Filmgeschichte geschrieben. So wie 54 Jahre zuvor von Hedy Lamarr, die in Wirklichkeit Hedwig Kiesler hieß. Durch Ekstase öffneten sich die Tore zu Hollywood, wo die gebürtige Wienerin nicht nur Film-Karriere machte. Lamarr ist Erfinderin des Frequenzsprungverfahrens, dem Grundstein der Handy-Technologie.

 

Kurier