Wo die Musik spielt

Was Kinder im Mutterleib hören, warum Wiegenlieder so wirkungsvoll sind und musikalische Kinder leichter durchs Leben gehen. Sie können sich besser konzentrieren und leichter lernen – ganz ohne Mozart-Effekt.

In uns allen spielt die Musik. Jedes Kind kommt musikalisch auf die Welt. Es musiziert nicht erst seit seiner Geburt in ihm, sondern seit der 25. Woche im Mutterbauch. Von da an hört Baby mit. Hirnforscher und Pädagogen sind sich einig, dass Kinder davon profitieren, wenn sie schon früh mit Klängen in Berührung kommen.

„Musik gibt es seit mindestens 50.000 Jahren. Die meisten Menschen sind musikalisch“, sagt der deutsche HirnforscherManfred Spitzer, Neurobiologe an der Universität Ulm und Autor zahlreicher Bücher (siehe Zusatzbericht). „Fünf Prozent der Kinder sind beim Singen ,Brummer‘, können also den Ton nicht treffen und halten, aber selbst sie können sehr rhythmisch veranlagt  sein.“ Die Musik ist vor der Sprache da. Auch wenn Kinder bereits vorgeburtlich Musikfans sind, hält KURIER-Family-Coach Martina Leibovici-Mühlberger eine BeschallungdesBabybauchsmitMozartklängen für überzogen. „Damit kann man kein Musikgenie heranziehen, sondern verlegt bereits ersten Leistungsstress in die Schwangerschaft. Wichtiger ist, dass der Mutter zum Singen ist.“ Außerdem können nur jene Melodien positiv auf den Fötus wirken, die auch der Mutter gefallen. Töne werden also bereits im Mutterleib wahrgenommen. „Man weiß dies aus Experimenten an schwangeren Frauen, denen man während Ultraschall-Kontrollen Lieder vorspielte, die sie zuvor oft gehört hatten: Die Kleinen reagierten darauf. Übrigens bis nach der Geburt. Sie konnten sich also nach der Geburt an vor der Geburt gehörtes Material erinnern“, erklärt Spitzer.

Einsingen

Wer sein Kind in den Schlaf singt und melodisch mit ihm redet, tut nicht nur viel für seine Musikalität, sondern auch für sein Sprachverständnis. Eltern sprechen ihren Säugling intuitiv in einem Singsang an. Das ist gut, denn Babys lernen dadurch die Sprache.Lange bevor sie den Sinn eines Satzes verstehen, erkennen sie durch die melodische Akzentuierung, was er bedeutet. Wiegenlieder haben eine große Wirkung auf kleine Menschen. „Dabei liegt es aber nicht allein am Lied, sondern auch am Klang der vertrauten Stimme der Mutter oder des Vaters“,so der Family-Coach. „Dieser Klang kann durch nichts ersetzt werden. Auch nicht durch ein perfekt arrangiertes Kinderlied von der CD.“ Wiegenlieder haben ganz praktische biologische Wurzeln: Der Körper eines Erwachsenen schwingt mit etwa 1 Hz Eigenfrequenz hin und her. „Wiegenlieder stehen meist im Walzertakt, der bei 180 Schlägen pro Minute genau jede Sekunde mit dem ersten Schlag beginnt. Wiegt die Mutter also ihr Kind, schwingt sie automatisch in diesem Rhythmus. Die Melodie von Wiegenliedern ist einschläfernd, absteigende Tonfolgen signalisieren ,Ende’“, erklärt Professor Spitzer.

Musik und Gesang haben einen wohltuenden Effekt. Deshalb ist es gar nicht nötig, Kinder zum Singen anzuhalten. Sie machen das von alleine. „Kleine Kinder singen oft gebetsmühlenartig vor sich hin. Bitte nicht auslachen, sondern singen lassen, damit sie nicht die Freude daran verlieren“, sagt Leibovici-Mühlberger. „Eltern sollten nicht zu früh Disziplinierung und  Konsequenz von Kindern fordern.“ Es sei auch kontraproduktiv, sie ständig zu ermahnen, Etüden und Sonaten auf dem Klavier runterzuklopfen. Kleine Kinder einfach spielen lassen. Mit sechs oder sieben sind sie auch zum Üben bereit. „Ein Instrument zu beherrschen ist wie einer speziellen Sprache fähig zu sein. Mit dem Erlernen werden viele andere Fähigkeiten wie Ausdauer, Selbstdisziplin, Konsequenz mittrainiert“, sodie Psychotherapeutin.

Ein Höhepunkt ist dann das erste kleine Konzert in der Familie –wenn sie etwas vorspielen. Dabei machen Kinder die erste Erfahrung, bestehen zu können. „Wer das hinter sich hat, kann es sein Leben lang gebrauchen“, sagt der Hirnforscher.

Abgrenzen

Die soziale Funktion von Musik zeigt sich in der Pubertät besonders stark. Weil Musik identitätsstiftend wirkt und sich  Jugendliche damit von Erwachsenen abgrenzen können. Spitzer: „Erste erotische Erfahrungen werden bei Musik gemacht und festigen so den jeweiligen Musikstil im Gedächtnis. Der mag sich für die Anderen schräg anhören – das war schonimmer so.“

Ein Musikinstrument ist für viele Teenager ein Stützpfeiler in dieser komplizierten Zeit, es stärkt den Selbstwert und gibt Halt. Bei Hardrock, Techno oder Heavy Metal können Aggressionen auf- und abgebaut werden. „Besser ein Ausdruck in wilder Musik als in Drogen oder Alkohol.“ Eltern können beruhigt sein. Das geht alles wieder vorbei.

Melodien steuern Emotionen und vertreiben Ängste

Musik macht klug Wie Musik auf die Gehirnentwicklung von Kindern ganz allgemein wirkt, sei letztlich nicht bekannt. Sicher ist: „Wer musiziert, der lernt seine Motorik zu beherrschen, und er lernt, dass aus Übung Verbesserungen resultieren. Wer das einmal begriffen hat, kann es überall – auch in der Schule – gut gebrauchen“, sagt Professor Manfred Spitzer. Daher seien Kinder, die ein Instrument spielen, praktisch in allem, was man testet, besser als Kinder, die kein Instrument spielen.

Wer übt, muss sich konzentrieren und lernt damit ganz allgemein und nebenbei Konzentration. Spitzer: „Aufgrund der geschilderten Effekte wundert es nicht, dass das Erlernen eines Instruments zu messbaren Leistungsverbesserungen in Intelligenztests führt.“ Dies habe aber nichts mit dem sogenannten „Mozart-Effekt“ zu tun, der Anfang der 90er-Jahre im Magazin Nature publiziert wurde. Demzufolge hatten Kinder bei einem Teil eines Intelligenztests etwas besser abgeschnitten, wenn sie während des Tests Mozart hörten. „Wiederholungen zeigten den Effekt, der weltweit  großes Aufsehen erregte, jedoch nicht. Und heute ist man sich darüber einig, dass es ein Zufallsbefund war“, so der Psychiater und Neurobiologe. „Dennoch ist Musik sehr wichtig und sollte keineswegs – beispielsweise an Schulen – ein Randdasein führen.“

Klänge verbinden

Neueste Studien zeigen, dass diejenigen Gene, die für Musikalität sorgen, auch das Sozialverhalten regulieren. „Sie deuten damit auf eine ganz ursprüngliche Rolle der Musik im menschlichen Miteinander hin.“ Ebenso weiß man aus der Gehirnforschung, dass Musik jene Gehirnzentren aktiviert, die für positive Emotionen zuständig sind. Experte Spitzer: „Zugleich wird die  Aktivität von Zentren der Angst vermindert. Musik regelt damit unsere Emotionen gleich doppelt in eine positive Richtung.“ Die wohltuenden  Wirkungen von Musik auf Geist, Gefühle und Gemeinschaftsleben sind geradezu umwerfend. „Da fragt man sich, warum man heute noch kein Lied gesungen hat“, so Spitzer. Es wird also Zeit: eins, zwei, drei, vier …
BUCHTIPPS
Manfred Spitzer: „Musik im Kopf“, Schattauer, € 19,95.
„Mozarts Geistesblitze“ Hörbuch, Österreichischer Verlag, € 14,95

Instrumente: Was ist ab wann für Kinder gut

Etwa 40 Prozent der Kinder spielen ein Instrument. Viele geben es mit der Zeit wieder auf. Kinder können mit fünf, sechs beginnen, ein Instrument zu spielen. Ideal ist die Blockflöte. Schwierig zu erlernen sind Instrumente, bei denen ein hohes Maß an motorischer und feinmotorischer Koordination  gefragt ist – wie bei der Geige. Besser ist das Klavier, weil man hier einfacher die richtigen Töne treffen kann. Das ist auch der Grund, weshalb es in der  Hitliste der Musikschüler immer noch auf Platz eins steht. Blasinstrumente wie Posaune und Trompete sind erst ratsam, wenn bereits die zweiten Zähne gewachsen sind.

Die Vorliebe für Musikinstrumente ist geschlechtsabhängig. Mädchen fühlen sich zunächst von der Blockflöte angezogen, Buben vom Schlagzeug. Dazu braucht es aber eine komplexe motorische Koordination zwischen Füßen und Händen. Darüber verfügen Kinder erst nach dem zehnten Geburtstag.

Erschienen im Kurier am 22. August 2010

 

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