Kann das auch bei uns passieren?

Die dramatische Lage in Japan verängstigt und beunruhigt die Kinder. Sie brauchen altersgemäße Information, Aufklärung und Gespräche. Wie Eltern am besten antworten.

Erdbeben, Tsunami, Vulkanausbruch, Atom-Katastrophe. Seit mehr als einer Woche erreichen uns stündlich neue Horrormeldungen aus Japan. Und Kinder bleiben von diesen Nachrichten nicht verschont – sie bekommen alles mit. Die Bilder über Zerstörung, Bedrohung und Verzweiflung schüren Ängste und machen unsicher. Es ist eine schwierige Aufgabe für Eltern, ihren Kindern Katastrophen und Tod zu erklären. Auch wenn es schwerfällt – man muss mit Kindern darüber reden und ihnen Antworten auf ihre Fragen geben.

Die Eltern-Kind-Gespräche sollten ganz offen und freundlich geführt werden. „Niemals mit kritischem, angstvollem, belustigendem oder sonst einem  Unterton“, empfiehlt die Wiener Psychologin Helga Kernstock-Redl. „Zunächst sollten Eltern feststellen, was ihr Kind weiß und was es glaubt. Diese Information ist wichtig, um es dort abholen zu können, wo es steht.“

Nachfrage

Wenn das Kind fragt, „Papa, wo ist eigentlich Japan?“, sollte zuerst zurückgefragt werden, warum das Kind das wissen will, was es über Japan gehört hat, und was es darüber denkt. „Je nach Alter und Entwicklungsstufe werden verschiedene Fragen kommen – und auf der gleichen Stufe können Eltern dann antworten“, sagt die Trauma-Expertin. Die Gespräche sollten mit einer solchen offenen Frage beginnen, denn sonst ist ein Kind auf seine  Fantasie und auf Informationsbruchstücke angewiesen. Manches ,bastelt‘ sich daraus sehr beängstigende, falsche Bilder.“

Nachstehend ein Leitfaden für die Beantwortung der Kinderfragen:

Verständlich sein

Antworten Sie in einer für Kinder verständlichen Sprache. Wenn etwa für Ihr  Kind „tausendmillionenmillionen Kilometer“ ein Ausdruck für „ganz weit weg“ ist, dann können Sie das übernehmen. „Nicht mit Details oder Fachausdrücken verwirren.

Information portionieren:

ein wenig davon in einen kurzen Satz packen und immer gleich rückfragen, was das Kind jetzt darüber denkt“, so Kernstock-Redl, die zum Thema Kinderfragen und Gefühlsausbrüche zwei Bücher verfasst hat (siehe unten).

Ruhe bewahren

Bleiben Sie so ruhig wie möglich. Emotionen sind ja ziemlich ansteckend – und  werden bewusst von manchen Medien verstärkt. Grundsätzlich ist es für den Menschen schwer auszuhalten, wenn er nichts gegen eine Bedrohung tun  kann. Es ist wichtig, nicht in hektische Hysterie zu verfallen. Das sollte auch im Gespräch mit anderen Menschen beachtet werden – Kinder hören ja zu. Und wenn aufgeregt debattiert wird, kann neuerliche Angst aufkommen. Besser ist es, sich ruhig auf das zu konzentrieren, was man verändern kann: Gegen die Katastrophe in Japan kann man nichts tun, aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Menschen dort zu helfen? Oder vielleicht gibt es jemanden,  der viel näher wohnt und dem man helfen kann?

Ehrlich bleiben

„Seien Sie so ehrlich wie möglich“,meint die Psychologin. Die Frage, ob ein Erdbeben bei uns auch passieren kann, sollte mit Ja beantwortet werden, aber mit der Erklärung verknüpft sein, dass ein dermaßen gewaltiger Erdstoß bei  uns nicht möglich ist. Kernstock-Redl: „Das gilt auch für die eigenen Gefühle. Wenn Sie selbst Angst bekommen, traurig sind oder Sorge um einen Freund in Japan haben, dann erklären Sie das. Sonst überlegt sich Ihr Kind am Ende noch, was es falsch gemacht hat, weil seine Eltern so traurig sind. Kinder haben die Neigung, sich schuldig zu fühlen.“ Je jünger ein Kind ist, desto größer ist die Gefahr für Schuldgefühle.

Vertrauen haben

Es ist wichtig, selbst Vertrauen in die Zukunft zu behalten. Menschen haben die Kraft, Katastrophen zu überstehen. Falls das Kind jetzt nach dem Sterben fragt, sollten ihm Eltern erklären, was sie selbst glauben und vielleicht auch, dass andere Menschen andere Sachen glauben. Dass es das Sterben gibt, aber dass es in der Familie noch „tausenmillionenmillionen“ Jahre nicht passieren wird.

Schrecken verhindern

Interesse und Schreckstarre sollten nicht verwechselt werden. Besonders jüngere Kinder können nicht wegsehen und starren wie gelähmt auf die Schreckensbilder. „Schützen Sie es davor, auch wenn das bedeutet, momentan selbst auf solche Informationen verzichten zu müssen. Zeitungsbilder, Erwachsenen-Nachrichten, Vorschauen und Sondersendungen sind erst ab dem Jugendalter geeignet“, sagt Kernstock-Redl. „Information ja, aber gefiltert und dosiert, sonst ist sie fast nicht bewältigbar – oder führt zu Gleichgültigkeit und Verrohung.“ Beim gemeinsamen Gespräch oder Beiträgen auf Kinderkanälen bestehe diese Gefahr nicht.

Kinder, die noch nicht in die Schule gehen, haben pragmatische Zugänge. Sie fragen sich, ob so etwas auch bei uns möglich ist.  Kann auch bei uns ein Berg explodieren? Oder ein Atomkraftwerk? Oder kann eine Flutwelle unser Haus wegreißen? „Und da kann man eindeutig klarlegen, dass wir so etwas nicht haben. Wir haben keine Atomkraftwerke, keine Vulkane und leben nicht am Meer“, sagt KURIER-Family-Coach Martina Leibovici-Mühlberger. „Damit kann man den Kleinen die Angst nehmen.“

Mitgefühl

Kinder haben feine Sensoren und es bedrückt sie, dass so viele Menschen obdachlos sind, sie haben großes Mitgefühl mit den Kindern, die ihre Eltern verloren haben und nicht wissen, wie es für sie weitergeht. Und sie machen sich Sorgen um dieUmwelt und wollen wissen, was Strahlung ist. „Anhand dieser Katastrophe sollten wir nicht abwiegeln, sondern die Kinder aufklären und sie in ihrem Mitgefühl bestärken“, sagt der Family-Coach. „Durch die Geschehnisse in Japan können Kinder begreifen, dass im Rahmen einer Katastrophe alle Menschen gleich sind. Eltern können den Kindern vermitteln, dass dieses Mitgefühl etwas ist, das noch viel mehr in die Welt getragen gehört. Denn dann könnten wir auch andere Entscheidungen fällen. “Zur Beruhigung sollte Kindern gesagt werden, dass jetzt alles nach bestem Wissen und Gewissen für die Menschen in Japan getan werde,um sie zu schützen und zu retten. Der Rest jedoch ist Realität.

Wichtig für Lehrer ist das Aufgreifen der aktuellen Fragen, die Schüler an sie stellen. „Hier kann man nicht mit einer standardisierten Antwort kommen, sondern muss darauf eingehen, was die Kinder am meisten bewegt. Nämlich,
dass die Menschen in Japan große Angst haben, krank werden, Schmerzen erleiden oder sterben“, erklärt Psychologin Mathilde Zemann vom Wiener Stadtschulrat (siehe auch Zusatzbericht unten).
Bewusstsein

Ein Stück Angst bleibt uns allen. Und die große Frage, „ob sich die Menschheit nicht ein bisschen wie der Zauberlehrling verhält. Und das ist etwas, das man mit Kindern besprechen kann. Denn in 20 Jahren sind sie die Entscheidungsträger“, sagt Psychotherapeutin Leibovici-Mühlberger. „Unsere Kinder sollten im Unterschied zu unserer Generation nicht mit dem Hochmut ans Werk gehen, dass die Technik die Natur beherrschen kann, sondern auch verinnerlicht haben, dass die Natur mit Respekt betrachtet werden muss. Denn das derzeitige materialistische Weltbild erweist sich nicht wirklich als tragfähig.“ Dieses Thema lässt sich mit Sieben- und Zehnjährigen genauso diskutieren wie mit 15-Jährigen. „Es ist wichtig für die nächste Generation, über diesen Schüsselrand hinwegdenken zu können und zu begreifen, dass die Erde als ganzer Organismus reagiert, und wir alle in einem Gesamtökosystem leben.“

Wie in den Klassen das Unglück aufgearbeitet wird

In den Schulen kommt derzeit kein Lehrer an der Katastrophe in Japan vorbei. Pädagogen klären auf und versuchen, ihre Schützlinge zu beruhigen. In den Volksschulen sind die Klassenlehrer die ersten Ansprechpartner. „Sie sind Vertrauenspersonen für die Kinder, und deshalb ist es am besten, wenn sie mit diesen über erschreckende, belastende oder unangenehme Ereignisse reden können“, sagt Mathilde Zeman, Psychologin beim Stadtschulrat für Wien. „Mit einer fremden Person würde alles noch schrecklicher. Kinder denken dann: wenn diese Botschaft nicht einmal die Lehrerin übermitteln kann, dann muss es etwas ganz Schlimmes sein.“ Eine vertraute Person kann den Schrecken  und den Schock mildern.

Gesprächsbereit

Eine spezielle Schulung für Lehrer sei derzeit nicht geplant. Aber wenn es für eine Klasse erforderlich ist, könne sich deren Pädagoge von Schulpsychologen coachen lassen. Bei den größeren Kindern übernimmt die Gespräche zunächst der Klassenvorstand. Zeman: „Wichtig ist, dass das Geschehen thematisiert und nicht tabuisiert wird. Dass Kinder nicht weiter verwiesen, sondern ihre Fragen beantwortet werden.“ Auch wenn sie Hilfsaktionen starten wollen, soll ihnen das ermöglicht werden, denn das wirke erleichternd. „Das Unglück beschäftigt und bedrückt Kinder und Jugendliche – oft mehr als Erwachsene.“ Es gehe aber nicht nur um Vertrauen, sondern auch um Wissen. Hier seien Physik- und Chemieprofessoren gefragt. „Je älter die Schüler sind, desto mehr kann man ihnen die Katastrophe auf fachlicher Ebene nahebringen und desto besser kann man mit ihnen über Vor- und Nachteile verschiedener Technologien sprechen.“

Erschienen im Kurier am 20. März 2011

 

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