Der lange Weg zurück in ein aufgeräumtes Leben

Krankhafte Sammler horten einfach alles. Sie füllen ihre Wohnungen, bis sie sich nicht mehr rühren können. In Wien wird das Leiden erforscht.

Nur noch mit akrobatischen Verrenkungen konnte Elisabeth zu ihrem Bett gelangen. Darauf war gerade noch soviel Platz, wie ihr Körper brauchte. Alles war angeräumt. Bis unter die Decke stapelten sich die Bücher, meterhoch die Zeitungsberge. „Aufgeflogen bin ich, als es in der Wohnung unter mir brannte“, erzählt die 62-Jährige. Plötzlich waren alle da – Feuerwehr, Polizei, Wiener Wohnen.„ Und ich musste die Wohnung räumen. Das war schrecklich“, sagt die pensionierte Bibliothekarin. Bücherwurm Elisabeth ist ein Messie .Ein Mensch, der zwanghaft sammeln muss und nichts wegwerfen kann. Nicht, weil sie schlampig oder faul ist, sondern weil ihr das Aufräumen Ängste und Schmerzen bereitet. Die Räumung der Wohnung empfand sie als seelische Grausamkeit. „Ich musste meine Sachen in ein Depot bringen. Das Schlimmste war, alles in Kisten zu verpacken“, erzählt Elisabeth, der Bücherwurm. Es tut ihr so weh, dass sie ihre Bände nicht um sich hat und träumt von einer größeren Wohnung.

Das Messie-Syndrom (engl. „mess“ = Unordnung) kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein und in jeder Altersgruppe auftreten. Aus einer anfänglichen Sammelleidenschaft  wird ein Zwang. Gesammelt wird dann nichts Bestimmtes mehr, sondern alles. Mit der Zeit kann das Syndrom in völliger  Vermüllung der Wohnung enden. Betroffene sind zusätzlich oft depressiv oder kaufsüchtig. Der 2003 verstorbene Opernführer Marcel Prawy
hinterließ seiner Erbin Senta Wengraf ein riesiges Archiv in Plastiksackerln und Kisten, das sie der Stadt Wien überließ. Prawy  war ein ordentlicher Messie.

Nach Schätzungen gibt es in Österreich 30.000 Messies. „Und es werden immer mehr“, sagt die Psychotherapeutin Elisabeth Vykoukal, die das Syndrom an der Sigmund-Freud-Privatuniversität erforscht. Die Ursachen der seelischen Erkrankung sind wissenschaftlich noch nicht geklärt. Es gibt aber Hypothesen. „Bei den einen scheint es eine Form der Verarbeitung von Trennungen zu sein, bei anderen zieht es sich durch das ganze Leben, weil die Eltern bereits Messies waren“, so Vykoukal. Es könne auch an strenger Erziehung und wenig Zuneigung liegen – Betroffene halten sich dann an Dinge und nicht an Menschen. Weiters: „Jede Zeit hat ihre Krankheit – es steht heute ausreichend Material zur Verfügung.“

Angelika Genau das schlägt bei Angelika durch. Die 67Jährige sagt, dass ihre Wohnung so vollgeräumt war, dass sie nicht einmal mehr kochen konnte. „Meine Tochter weigerte sich, mich zu besuchen.“ Seit Beginn de rTherapie habe sich ihre Lebensqualität verbessert, „weil ich wieder sitzen kann“. Wer Angelika sieht, käme nie auf die Idee, dass sie im Chaos lebt. Sie ist attraktiv und stilvoll gekleidet. Den meisten Messies sehe man ihr Leiden nicht an. „Sie sind  freundlich, vielseitig und im Beruf meist beliebt,
weil sie einen Hang zum Perfektionismus haben“, sagt Gabriele Flemisch, angehende Psychotherapeutin und Messie-Betreuerin an der Sigmund-Freud-Uni. Messies schämen sich aber und wollen ihre Neigung unbedingt geheim halten. „Mit derzeit ziehen sie sich immer mehr zurück und lassen niemanden mehr in die Wohnung. Dadurch verlieren sie die sozialen Kontakte“, sagt die Kunsttherapeutin Dorit Doppelhammer. Sie will ihren Klienten die Kreativität neu erschließen. Eine Schwerarbeit. „Denn die erste Hürde ist ,etwas von daheim mitzubringen und neuzugestalten.“ Angelika war eine der ersten, die etwas mitbrachte: Einen ausrangierten Schirm, aus dem ein Kunstwerk entstand. Bei Angelika kam das Syndrom nach der Scheidung zum Vorschein. „Da hab’ ich mit dem Kaufen begonnen und die leeren Kästen meines Mannes mit meinen Kleidern gefüllt.“

Magorie Sie ist 32, hübsch, sympathisch, gebildet. Die Logistik-Spezialistin könnte bald andere Wege einschlagen.„Magorie ist ein großes künstlerisches Talent“, sagt Doppelhammer. „Einige ihrer Werke fanden bereits Käufer.“ Magorie hofft ,dass ihr das Auftrieb gibt, denn „ich habe es bis heute nicht geschafft, einen richtigen Wohnraum zu gestalten und jemanden hereinzulassen“. Einen Freund gibt es in ihrem Leben auch nicht. „Mein Messietum hält mich von einer Beziehung ab.“ „Messies heben jeden Zettel, jede Zeitung auf, weil sie fest davon überzeugt sind, alle Informationen zu benötigen. Zum Lesen kommen sie gar nicht“, sagt Gabriele Flemisch. „Dabei verlieren sie das Gefühl für Zeit und Raum, Alltagsabläufe werden zur Qual. Deshalb kommen Messies auch immer zu spät. „Die Enge und die Einsamkeit, in der sie leben, führen oft auch zu körperlichen Symptomen. Deshalb sei es für Messies so wichtig, wieder einen Einstieg in ein geordneteres Leben zu finden. Eine Therapie könne keine Wunder wirken, „aber helfen, die Wohnung wieder wohlfühlbar zu machen“.

Kurt Der53-jährige Kurt aus dem Burgenland möchte ein Vorurteil ausräumen: „Messies werden von der Gesellschaft oft als Monster hingestellt. Sind wir aber nicht.
Wir haben ein Leiden, mit dem wir uns selbst schaden. Wir arbeiten immer gegen uns.“ Er habe es von seinem Vater mitbekommen, der alles aufgehoben hat. „Jeden rostigen Nagel klopfte er gerade und bestrich ihn mit Rostschutzfarbe. Und ich hebe auch jeden Nagel, jede Schraube, jeden Kuli, jede Uhr, jedes Kabel auf. Weil alles für irgend etwas irgendwann gebraucht werden könnte“, erklärt er. Und so säumen in Kurts Haus Schachteln, Kisten, Dosen, Sackerln, Stangen und Platten den Weg durch das Vorzimmer, die Stiegen hinauf und hinunter. Im Wohnzimmer ist kein Plätzchen ungenützt: Schlüsselanhänger, Stifte, Blöcke, Zeitungsausschnitte, Werkzeugteile. Jedes scheinbar noch so nutzlose Ding hat für Kurt eine Bedeutung, ist eine persönliche Erinnerung. Kurt hat eine Kleidersammlung, die sich sehen lassen kann. Kästenweise Hemden, Hosen, Krawatten, T-Shirts, Pullis. Es sind bestimmt mehr als hundert Hemden, die fein-säuberlich in den Schränken hängen, die noch originalverpackten nicht dazu gezählt. Als er sein Problem erkannte und vor anderthalb Jahren mit einer Therapie begann, war es für seine Ehe bereits zu spät. Seine Frau hatte ihn mit den zwei Kindern nach zwölf Jahren verlassen. „Die Partnerschaft war äußerst problematisch, weil der andere nicht verstehen kann, dass man so handelt. Es gab unendlich viele Reibereien.“ Es sei ganz verkehrt, einen Messie aufzufordern, er solle doch aufräumen und alles wegwerfen. „Das  wissen wir Messies selbst, wollen es auch, aber können  es nicht“, sagt Kurt. Die neue Einsamkeit  scheint für den leitenden Angestellten eine Erleichterung zu sein – er muss nicht mehr für seine Dinge kämpfen und sich nicht mehr rechtfertigen. Und er hat wieder so viel Platz wie er braucht.

Teufelskreis Trotzdem: Kurt wünscht sich ein aufgeräumteres Leben. „Denn die vielen Dinge konfrontieren mich mit meinem permanenten Scheitern und erinnern mich ständig, dass ich etwas ändern sollte.“ Das Nichtzusammenbringen löse wiederum die  Antriebslosigkeit aus, die noch mehr zum Sammeln anrege. Das Messie-Syndrom ist eine Krankheit, sagt Kurt. „Betroffene brauchen Hilfe und Verständnis, aber nicht Ausgrenzung.“ Dem Teufelskreis zu entkommen ist ein langwieriger Prozess.

 

Forschung: Privatuniversität bietet Betroffenen Erste Hilfe

Abgeleitet vom englischen Wort mess (= Unordnung) werden jene Menschen Messies genannt, die ihren Lebensbereich drastisch einschränken, indem sie  mit Dingen überfüllen und sich die Organisation des alltäglichen Lebens extrem erschweren. Es ist eine „junge“ Erkrankung, die noch nicht lange erforscht wird.1985 prägte  die amerikanische Sonderschulpädagogin Sandra Felton den Begriff „Messies“ für Menschen, die an dieser Desorganisation bezogen auf Raum und  Zeit sowie sozialer Integration leiden und gründete die erste Selbsthilfebewegung in den USA.

Das Wiener Projekt an der Sigmund-Freud-Privatuniversität wurde nach New York als das weltweit zweite wissenschaftliche Forschungsprojekt für Messies ins Leben gerufen. Unter der therapeutischen Leitung der Psychotherapeutin und Gruppenpsychoanalytikerin Elisabeth Vykoukal und der wissenschaftlichen Leitung von Universitätsprofessor Alfred Pritz können Betroffene das Syndrom behandeln lassen. Angeboten werden eine von Experten geführte Selbsthilfegruppe für Messies selbst und eine spezielle für deren Angehörige. Weiters Psychotherapie und Gruppenpsychoanalyse, Kunsttherapie sowie Teilnahme an Studien. Zum Programm gehört außerdem die sozialtherapeutische Betreuung für Messies zu Hause. Mit Experten können die Wohnsituation und konkrete Problembereiche bearbeitet und Betroffene in ihrem direkten Umfeld psychisch unterstützt werden.  Die Therapien sind zum Teil auf Krankenschein möglich oder werden dem Einkommen entsprechend berechnet.  www.sfu.ac.at

 

erschienen im KURIER am 30. 11. 2008