Die evangelische Kirche in Mitterbach

 

Das evangelische Gotteshaus, das 1785 als Bethaus erbaut wurde, gilt als einzige Toleranzkirche Niederösterreichs.

 

Etwa 35 Jahre vor Erlassung des Toleranzpatentes ließen sich Holzknechte aus dem Dachsteingebiet in der waldreichen Ötschergegend nieder. Erstmals sollte in den Wäldern, die dem Stift Lilienfeld gehörten, geschlägert werden. Dazu brauchte es Holzknechte, die sich auf Schlägerungen an steilen Berghängen verstanden. Die einsame abgelegene Gegend kam ihnen sehr entgegen. Einerseits fanden sie endlich Arbeit und andererseits konnten sie weitgehend ungestört ihren verbotenen evangelischen Glauben ausüben. Hier waren sie nicht so überwacht wie an den Verkehrsadern und in Ortschaften. Für ihre Andachten war der Zufluchtsort geradezu ideal.

Nach außen hin katholisch geworden, hielten viele Menschen insgeheim an ihren Überzeugungen fest. Vor allem in den schwer zugänglichen Gebirgstälern konnte so evangelisches Glaubensgut über Jahrzehnte hinweg bewahrt und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Unerlässlich für das geistliche Überleben waren Bücher, neben der Bibel auch Andachts- und Liederbücher. Sie fanden bei den häuslichen Andachten und Predigtgottesdiensten ebenso Verwendung wie für den Unterricht der Kinder. Freilich waren diese Schriften verboten, und so mussten immer neue Verstecke gefunden werden, um der Konfiszierung durch die Behörden zu entgehen.

Die Lutherbibel war für die Holzknechte das heiligste Familienstück und wurde vom Vater verwahrt, der auch der Hauspriester war. Nur er holte das Buch aus seinem Versteck, um daraus im Kreise seiner Lieben vorzulesen. Und oft offenbarte er erst auf dem Sterbebett dem ältesten Sohn, wo er es verborgen gehalten hat. Die Gegenreformation hatte bewirkt, dass die Leute die katholische Messe besuchten, um nicht aufzufallen. Ihren Glauben änderte das nicht.

Das Verhalten blieb der Obrigkeit nicht verborgen, man hörte von den Andachten in den Häusern. Doch man hatte keine Beweise, denn die Ötscherleute hielten zusammen und verrieten sich nicht. Was sollte man also tun, um diese der Ketzerei verdächtigen Eindringlinge aus dem Dachsteingebiet zu rechten Katholiken zu machen? Noch dazu, wo diese in der Nähe des großen Gnadenortes Mariazell lebten. Weil der Kirchgang für die Holzknechtfamilien extrem beschwerlich war und einen stundenlangen Anmarsch erforderte, wurde ihnen im Ötschergebiet ein Kirchlein errichtet, „St. Johann in der Wüste“. Mit eigenem Priester, der sie zum richtigen Glauben führen würde. Dachte man.

Das half aber nicht. Trotz strenger Verbote, trotz aller Einwirkung der herrschenden Kirche, trotz der Pflicht, an der Messe teilzunehmen – dem Glauben konnte das nichts anhaben. Und dies, obwohl sie katholisch getauft, unterrichtet und getraut wurden und obwohl ihre Verstorbenen katholisch beerdigt wurden.

Als das Passauer Domkapitel über die Zustände am Ötscher ernsthafte Maßnahmen ergreifen und den Geheimprotestantismus beseitigen wollte, passierte das „Wunder“ mit dem Erlass des Toleranzpatents 1781. Damit wurde das Untergrunddasein des Protestantismus beendet. „Überzeugt … von der Schädlichkeit alles Gewissenzwanges“, gestand Kaiser Josef II. den „augsburgischen und helvetischen Religions-Verwandten“ eine (wenn auch eingeschränkte) Religionsausübung zu: Wo hundert evangelische Familien (oder 500 Personen) lebten, konnte ein Bethaus errichtet werden; dieses durfte jedoch von außen nicht als Kirche erkennbar sein (keine Türme, keine Glocken) und über keinen öffentlichen Zugang von der Straße her verfügen. Die Einrichtung von Schulen sowie die Berufung von Lehrern und „Pastoren“ wurden ebenfalls erlaubt. Die Bezeichnung „Pfarrer“ wie auch die Standesführung waren nach wie vor der katholischen Geistlichkeit vorbehalten.  Daher mussten Protestanten ihre „Stolagebühren“ (Vergütungen für kirchliche Handlungen) auch doppelt entrichten. Die diskriminierenden Regelungen bei Mischehen sowie die Verpflichtung zu einem sechswöchigen Übertrittsunterricht bedeuteten eine zusätzliche Erschwernis, zumal die katholischen Pfarrer diesen oft über Gebühr in die Länge zogen.

Trotzdem bekannten sich unmittelbar im Anschluss an die Verlautbarung des Toleranzpatents im Gebiet des heutigen Österreich an die 80.000 Menschen zum evangelischen Glauben. Unter den Holzknechten im Ötschergebiet waren es an die 300 Gläubige. Die ehemaligen Geheimprotestanten gründeten die so genannten „Toleranzgemeinden“, die zum Fundament der neuen Evangelischen Kirche in Österreich wurden.

Nun mussten die Bücher nicht mehr versteckt werden. Bibel, Gesangbuch- und Predigtbuch lagen an einem Ehrenplatz in der Wohnstube. Was für eine selige Zeit. Die Sehnsucht nach einem Bethaus wurde immer größer. Nachdem sich im Laufe dieses Jahres so viele aus den Nachbarorten zum Evangelium bekannt haben, befasste man sich mit dem Gedanken in Mitterbach ein Bethaus zu errichten. So einfach war das aber nicht und es dauerte noch drei Jahre bis dieser Wunsch in Erfüllung ging. Mit großen Hoffnungen schickte man das erste Ansuchen ab, das prompt abgelehnt wurde. Ebenso wie das zweite. Man musste sich weiterhin in allen Anliegen an die katholische Kirche wenden. Es blieb also alles beim Alten. Bethäuser gab es bereits in Schladming, Gosau, Goisern und Wien. Viel zu weit entfernt für die Menschen im Ötscherland.

1784 kam die Wende – in Gestalt des Buchhändlers Georg Philip Wucherer aus Wien. Er hatte Verbindung zum kaiserlichen Hof und sprach dort für die Mitterbacher vor. Dadurch war es möglich, dass einige Mitterbacher persönlich in Audienz bei Kaiser Josef II. erscheinen durften, um ihm ihr Herzensanliegen vorzutragen. Und sie erhielten die Genehmigung. Der Erlass kam und nun hatten sie es schwarz auf weiß, dass sie ein Bethaus und einen Pastor haben dürfen. Der Jubel in Mitterbach war groß.

Ob die durch das Toleranzpatent vorgeschriebene Zahl von 100 Familien oder 500 Seelen für die Gründung einer Gemeinde erreicht wurde, weiß man nicht. Jedenfalls waren keine rechtlichen Schwierigkeiten mehr zu überwinden. Dafür stellten sich finanzielle ein. Woher die Mittel für den Bau nehmen? Wie den Pastor bezahlen? Die Gemeinde war arm, bis auf einen Bauern bestand sie aus lauter Holzknechten. Und die hatten oft nicht genug, um ihre Familien zu ernähren.

Die Gemeindemitglieder beratschlagten, redeten, rechneten. Schließlich wurden  Boten ausgeschickt, die über Berg und Tal wanderten und jedes Haus am Ötscher und der Gemeindealpe besuchten. Sie marschierten vom Göller bis zur Rax, um zu erfragen, wie viel jeder zu den großen Plänen beitragen und ob man mit jedem zählen könne. Wohl selten ist an so einem Plan mit so viel Liebe, Hingebung und Opferbereitschaft gearbeitet worden, wie an der Errichtung des Mitterbacher Gotteshauses.

Nach einem dreiviertel Jahr ging es mit vollem Eifer an den Bau des Bethauses samt Wohnung für den neuen Seelsorger. Alle halfen mit. Ende des Jahres 1785 sollte das Bethaus eingeweiht werden. Mit großer Freude und voll der Erwartung sah die Gemeinde der Weihnachtszeit entgegen. Es wurde ein Festtag! Schon am Heiligen Abend setzte der Zustrom nach Mitterbach ein. Die weit entfernt wohnenden Gemeindemitglieder übernachteten bei ihren Verwandten und Bekannten. Welch eine Menschenmenge! Der Wirt hatte 300 Gäste – eine für damals ungeheure Anzahl.

Dieser wunderbare Festgesang! Alle waren glücklich. Seit Ururgroßvaters Zeiten der erste evangelische Gottesdienst in einem evangelischen Gotteshaus. Wie ganz anders klang die Weihnachtsbotschaft im Vergleich zur Hagenkirche. Und viel feierlicher als bei den heimlichen Versammlungen im Ötscher. Dass das Bethaus innen sehr einfach eingerichtet war, störte niemanden und auch nicht das fehlende Glockengeläute. Turm und Glocke waren ja nach Erlass des Toleranzpatentes verboten. Ein Bethaus durfte einer Kirche nicht ähnlich sein. Eine Zierde gab es dennoch: Zwei Engel aus der Hagenkirche, die einst für die Holzknechte errichtete katholische Filialkirche „St. Johann in der Wüste“. Sie erinnern bis heute an die Zeit des Geheimprotestantismus.

 

Ingrid Edelbacher

Nach Frank Honeggers Broschüre 200 Jahre „Evangelische Kirche Mitterbach“ sowie Infos Evang. Kirche Österreichs

Text zur Dauerausstellung „Glaubensreich“ in Mitterbach