Martyrium: Eine Frau erzählt, was sie ertragen musste und wie ihr die Kindheit und jedes Vertrauen genommen wurden.
Das kleine Mädchen kommt vergnügt von der Schule. Als erstes hüpft es in den Stall, um nach seinem Meerschweinchen zu sehen. Die Sechsjährige nimmt das quiekende Knäuel und klettert mit ihm auf den Heuboden– einer ihrer Lieblingsorte. Plötzlich steht der Vater vor ihr. Ohne ein Wort zu sagen, wirft er das Kind ins Heu und befriedigt sich an dem kleinen Körper. Dann steht er auf und geht weg. Verstört und verängstigt bleibt das kleine Mädchen zurück. Es kann nicht einmal weinen, so geschockt ist es.
Dann steht es auf, streift das beschmutzte Höschen ab und vergräbt es ganz tief im Heu, damit es keiner findet. Ab diesem Tag hat das kleine Mädchen keinen Lieblingsort mehr, und immer wieder verschwinden seine Höschen. Und als die Mutter fragt, wo denn seine Unterwäsche hin käme, sagt es nur: „Das weiß ich nicht.“
Ausgeliefert Theresia L. stammt aus einer wohl habenden Bauernfamilie irgendwo in Österreich. Sie ist 56 und der Autorin bekannt. Angesichts aktueller Ereignisse ist sie bereit, anonym ihre Geschichte zu erzählen. „Nie wäre mir in den Sinn gekommen, mich jemandem anzuvertrauen. Ich wusste ja nicht genau, was das war, was er tat“, sagt Theresia, „es war doch mein Vater, mein geliebter Vater. Der so lieb war, dass er mich, wenn der Schnee sehr hoch lag, drei Kilometer in die Schule getragen hat.“ Die hübsche schlanke Frau mit leuchtend grünen Augen und schwarzem Haar beginnt zu weinen. Ganz leise, fast unhörbar. So, wie sie es als Kind gelernt hat.
Und die Mutter? Hat die nichts gewusst, nie etwas gesagt? „Ich glaube, die Mutter hat das sehr wohl gemerkt, aber die hat nicht raus können aus ihrer Haut und sich vielleicht gar nicht getraut.“ Der Vater sei sehr autoritär gewesen, duldete von den Kindern keinen Widerspruch. „Es galt die Regel: Reden dürfen nur die Eltern, wir Kinder haben nichts zu sagen“, so Theresia. Ob sie die Mutter um frische Eier schickte, die sie aus den Nestern nehmen sollte, ob sie irgendwo auf dem Hof beim Spielen war oder nachts in ihrem Bett lag, Theresia war ständig bedroht, fühlte sich nie sicher. „Ich entkam ihm nicht, ich war ihm ausgeliefert“, sagt sie heute, und Tränen rinnen über ihr schmales Gesicht. „Das Irre dabei ist, dass man gehorcht. Was soll man denn als Kind gegen den Vater tun? Und wie soll man wissen, was richtig und was falsch ist? Und noch irrer ist, dass ich bis heute Entschuldigungen für ihn suche.“ Für den Mann, der das Wort Vater nicht verdiene.
Als sie 12 war, hat der Vater eine andere Arbeitsstelle angenommen und war sehr wenig zu Hause. In dieser Zeit löste sich Theresia vom Elternhaus und zog zur Oma. Später ging sie in eine Lehre und lernte bald ihren späteren Ehemann kennen. Der Vater hatte keinen Zugriff mehr auf sie. Auf ihre ältere Schwester schon. Aber das erfuhr Theresia erst viele Jahre später.
Aufgeblättert Geredet hat Theresia erst mit 28, als ihr das Despotentum des Vaters bei einem Familientreffen zu viel wurde. „Ich hab’ alles gesagt, was er mir sechs Jahre lang angetan hat. Er hat es abgestritten, ist auf mich los gegangen und hat mich am Halsgepackt. Wären mein Bruder und mein Mann nicht gewesen, dann hätte er mich umgebracht.“ Erst danach konnte sie darüber reden. Mit der Mutter nicht, „die hat alles runtergespielt“. Aber meine Schwester hat gesagt: Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Angst ich immer um dich gehabt hab’. Erst da wusste ich, dass auch sie vom Vater vergewaltigt wurde.“ Aber nicht nur Theresia und ihre Schwester waren Opfer– auch ihre Freundinnen aus dem Dorf. In einer Frauenrunde erzählte Theresia einmal von ihren Qualen. „Und da stellte sich heraus, dass es anderen ebenso ergangen ist. Unser Dorf bestand damals aus 16 Häusern, und in drei davon haben die Väter ihre Töchter missbraucht.“ Ohne Folgen für die Täter. Keines der Opfer hat bis heute den Vater angezeigt. Keine ihrer Mütter verlangte die Scheidung oder ging vor Gericht. Die Männer lebten völlig unbehelligt im Dorf. Sind heute sehr alt oder bereits gestorben.
Theresia hat in ihrem Beruf Karriere gemacht und lebt weit weg vom elterlichen Hof. Sie fühlt sich stark und kann mit ihrem Schicksal umgehen. „Aber es hängt mir schon nach, das ist einfach in mir drinnen.“
Psychologie: Gewalt ist niemals zu entschuldigen
„Das missbrauchte Kind fühlt sich erniedrigt, ohnmächtig, ist verzweifelt und verliert völlig das Vertrauen in die Erwachsenen“, sagte damals Universitätsprofessorin Ilse Götz. „In einem Klima, in dem Kinder nichts gelten, wird es auch kein Kind wagen, sich jemandem anzuvertrauen. “Männer, die Kinder missbrauchen, seien abnorm, gewalttätig, aggressiv. „Sie können niemals entschuldigt oder gar als gut gesehen werden. Sie demütigen ihre Kinder in absoluter Respektlosigkeit und verletzen sie zutiefst – psychisch und physisch.“
erschienen erstmals im KURIER vor neun Jahren, 2018 modifiziert