Fotos: „Die ganze Woche“
Aus „Die ganze Woche“, Ausgabe 1. März 1990
In Kapellen an der Mürz wurde noch vor Jahren in vielen Häusern die Schafwolle verbrannt, weil sich niemand mehr auf die alte Kunst des Spinnens verstand. Dann ergriffen ein paar Frauen die Initiative. Und heute wird mehr gesponnen denn je.
„Ich bin jetzt eine, die seltener spinnt, weil ich immer alles organisieren muss“, sagt Gertrude Deininger, 69, Volksschuldirektorin im Ruhestand und Bäuerin auf Lebenszeit. Sie hätte es sich nicht träumen lassen, dass der Faden, den sie vor dreizehn Jahren erstmals an ihrem Spinnrad drehte, nicht mehr abreißen will. Er überspannt das ganze Mürztal, zieht sich über weite Teile der Steiermark und reicht bis nach Kärnten und Niederösterreich. Überall dort gibt es nämlich Spinnrunden, die auf Initiative von Gertrude Deininger entstanden sind.
Im steirischen Ort Kapellen finden wir den Anfang des Fadens. Mit dem neuerlichen Aufschwung der Schafzucht blieben die Bauern auf immer größeren Wollmengen sitzen. Kaum jemand verstand sich in dieser Gegend noch auf die fachgerechte Weiterverarbeitung der lockigen Pelzkleider der Schafe. Wer keine Abnehmer fand, verheizte kurzerhand die Wolle.
„Das darf nicht verloren gehen, du musst dich darum kümmern“, beschwor Schafzüchter Bertram Deininger seine Frau, die gemeinsam mit Tochter Ingrid und einigen anderen Frauen die erste Spinnrunde gründete. In vielen Häusern fanden sich auf dem Dachboden dick verstaubte Spinnräder, die sich jedoch leicht wieder in Gang setzen ließen.
Im Winter 1977 waren es acht Frauen, die sich auf dem Deininger-Hof im Spinnen übten. „Einige Jahre später zählten wir schon 350 spinnerte Weiber in unserer Umgebung“, lacht Frau Deininger. Heute gibt es 60 Spinnrunden in ganz Österreich und an die 7.000 Frauen (sowie etliche Männer), die das alte Handwerk beherrschen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Frauen der Spinnrunde Kapellen immer wieder mit dem Autobus in die verschiedenen Ortschaften fuhren, wo sie dann ihr Können weitergaben. Und mittlerweile funktioniert das bei den anderen Runden genauso.
Im Hause Deininger hat sich in all den Jahren nichts geändert. Jeweils nach dem Dreikönigstag geht’s los. Jeden Dienstagabend trotten die Frauen von nah und fern mit ihren Spinnrädern in der Hand auf das Gehöft zu. Da wird in fröhlicher Runde gesponnen, gesungen, gelacht und getratscht. Wer etwas auf dem Herzen hat, findet hier im Gespräch wohltuende Erleichterung. Wer nichts zu sagen hat, kann beim Spinnen herrlich nachdenken. „Es ist eine überaus beruhigende Beschäftigung“, meint Gertrude Deininger.
Allzu viel Ruhe lässt die agile Bäuerin jedoch niemals aufkommen, denn sie ist ständig bestrebt, diese alte Volkskunst zeitgemäß weiterzuentwickeln. Gemeinsam mit den Frauen grub sie in Vergessenheit geratene Strickmuster wieder aus: „Brennende Liab“, „Drahdi“ oder „Butterschüsserl“ heißen sie. Sogar ein Muster namens „Sauduttl“ wurde gefunden.
Nachdem all die Damen und ihre Angehörigen stolze Besitzer von handgestrickten Westen, Pullovern, Stutzen und Socken aus selbstgesponnener Schaftwolle waren, versuchte man sich im Färben. Mit Pflanzen, versteht sich. Ob Zwiebelschale, Brennessel, Birkenrinde, Rotholz, Johannisbeere, Rhabarber oder Sauerampfer – all das gibt Farbe. Sehr begehrt ist auch das Labkraut, das bei uns in Wäldern zu finden ist. Und heute wundert sich niemand mehr in Kapellen, wenn Linde Lipp, 49, gebückt zwischen den Bäumen hin- und herläuft. „Die Labkrautwurzel ist nicht so leicht zu finden. Aber jetzt weiß ich schon meine Plätze, wo ich danach graben kann“, sagt Frau Lipp, die sich eine eigene kleine Hexenküche mit umfangreichem Kräutervorrat eingerichtet hat. Natürlich bedurfte es langwieriger Experimente, bis eine Farbe nach ihrer Vorstellung zustande kam, aber mittlerweile hat sie die Kräuteln fest im Griff. Und solche, die bei uns nicht wachsen, etwas Indigo, holt sie sich aus der Apotheke.
Hat sie die Färbearbeiten beendet, setzt sich Linde Lipp an den Webstuhl, den sie vor vier Jahren anfertigen ließ. Ihre Teppiche und Webbilder erfreuen sich in ihrem Bekanntenkreis großer Beliebtheit.
Richtig gewerbsmäßig werken die Kapellener Frauen jedoch nicht. „Eher für den eigenen Gebrauch und für Freunde“, sagt Frau Deininger, die sich aber vorstellen kann, dass manche Spinnerin auch auf Bestellung arbeiten könnte. Regelmäßig stellen die Frauen ihre Werke zur Schau: Zu bewundern sind nicht nur die erwähnten Strickmuster, sondern auch Teppiche, Babyausstattung, Vorhänge, Tischdecken und Stoffe. Letztere sind die Neuentwicklung von Ingrid Deininger, 44. Die Lehrerin lässt die feingesponnene Wolle bei einem Webermeister zu Stoffen verarbeiten, die keine Vergleiche zu scheuen brauchen. „Uns geht es vor allem darum, zu zeigen, was man aus Schafwolle alles herstellen kann“, sagt Mutter Gertrude.
Und das ist gut so. Denn dadurch kann der Faden nicht mehr reißen.