Ich bin ihre Hände und Füße

Die Politik diskutiert seit Wochen die neuen Pflegeverordnungen. Was eine 24-Stunden-Betreuung bedeutet, erzählt eine Mutter dem KURIER.

Karins Augen leuchten, als sie die Besucher auf Weihnachtskripperl und Blasengerln aufmerksam macht, die ihr gestern eine Freundin gebracht hat. Karin liebt Engel. Weitere Figuren, Bilder und Karten sind so auf dem Tisch drapiert, dass Karin sie stets im Auge hat. Sehen und hören kann Karin gut, sie bekommt alles mit. Sprechen, essen, trinken oder gehen kann Karin schon lange nicht mehr. Dennoch ist ihr Körper niemals ruhig, unkontrollierte Muskelbewegungen und Krämpfe bereiten der 26-Jährigen starke Schmerzen.

Mit zwölf machte sich die Krankheit erstmals bemerkbar. Mit 15, nach der Schulzeit, brach sie voll aus. Seither muss sie ihre Zeit auf der Krankenliege oder im Rollstuhl verbringen. Karin leidet unter der tödlichen Erbkrankheit Chorea Huntington, auch Veitstanz genannt. Das Leiden, bei dem immer mehr Nervenzellen absterben, kann Jahrzehnte dauern. Gepflegt wird die junge Frau von ihrer Mutter daheim in Leobendorf, NÖ.

„Karin ist ein medizinisches Wunder, denn nach Einschätzung der Ärzte müsste sie längst im Himmel sein“, sagt Franziska „Fany“ Knittl, während sie der Tochter sanft die Schweißperlen von der Stirn wischt und ihr anschließend den Schleim absaugt, weil sie nicht schlucken kann. Trotzdem kommt es oft zu Erstickungsanfällen. Nahrung und Medikamente erhält Karin über eine Ernährungssonde. Windeln jedoch lehnt Karin ab, sie will die Toilette benutzen. „Sie braucht ihre Freiheit. Und es ist mir sehr wichtig, dass mein Mädl die Würde behält“, sagt die Mutter. Sie ist seit elf Jahren rund um die Uhr mit Karin beschäftigt. Und völlig fertig.

Eine von vielen
Fany Knittl ist eine von insgesamt 400.000 Österreicherinnen, die daheim ein Familienmitglied pflegen. Eine von jenen, die derzeit nicht wissen, wie die Auswirkungen des ab Jänner geltenden Pflegegesetzes tatsächlich sein werden und ob sie sich eine 24-Stunden-Hilfe überhaupt noch leisten können. „Ohne Hilfe schaffe ich das nicht mehr. Kreuz und Knie sind kaputt, und einen Nabelbruch vom vielen Heben hab’ ich auch“, erzählt Frau Knittl. „Wenn der akut wird, müssen wir beide ins Spital. Ich kann doch Karin nicht alleine lassen.“ Sie hofft inständig, dass das nicht während der Feiertage passiert, damit sie schöne Weihnachten haben. „Es könnten ihre letzten sein“, sagt die Mutter leise. „Karin ist etwas Besonderes, von Gott geschickt. Sie gibt allen Menschen Kraft, die bei uns ein- und ausgehen.“ Fany Knittl führt ein offenes Haus, sehr zur Freude ihrer Tochter, die gerne Besuch hat. Sie ist es gewohnt, dass andere sie nicht verstehen, aber sie hat in ihrer Mutter eine perfekte Dolmetscherin, die ihre Laute und Gesten übersetzt. Fany Knittl hat sich ihr Haus praktisch vom Mund abgespart. Denn als vor Jahren der Rohbau endlich stand, war sie Witwe.

Rückblende
Als Fany den Polizisten Josef heiratet, weiß sie nicht, dass ihre große Liebe diese heimtückische Erbkrankheit in sich trägt. Das Paar bekommt drei Kinder – Harald, Karin und Dagmar – und hat nur acht gemeinsame Jahre. Die Krankheit bricht bei Josef aus, er stirbt 1982. Da ist das Leiden bereits auch bei Dagmar sichtbar.
Nach dem Tod des Mannes steht Fany mit den Kindern und einer kleinen Witwenpension allein da. Sie schafft es trotzdem, das Haus fertigzubauen. Freunde helfen dabei. Mode ist Fany nicht wichtig, sie trägt bis heute das Gewand ihrer Freundinnen auf und nimmt Möbelstücke gerne aus zweiter Hand.

Fünf Jahre nach dem Ehemann muss sie Dagmar begraben. Sie wird nur zehn Jahre alt. Eines der drei Kinder ist gesund: Harald, heute 28, ist Installateur und eine große Stütze für seine Mutter, die seit insgesamt 25 Jahren härteste Pflegearbeit leistet. Und dennoch nicht verzagt: „Als Mädchen wollte ich immer Krankenschwester werden. Ich wurde es eben für meine Familie“, sagt sie ohne jedes Selbstmitleid, klopft Karin den Polster zurecht und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin ihre Hände und Füße, aber ich achte auf ihre Wünsche und Rituale, damit sie auf ihre Art selbstständig sein kann.“

Geld reicht nicht
Seit fünf Wochen hat sie Anja aus Polen an ihrer Seite. Legal übrigens – aber zu einem Sonderpreis von einer Agentur vermittelt, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. Von Karins Pflegegeld bleibt kein Cent. Und von ihrer Pension (700 Euro) kann sie gerade das tägliche Leben bestreiten. Ein neuer Küchenherd – es funktionieren seit Längerem nur noch zwei Platten – ist nicht drin.
„Anja hilft mir, wo sie kann, aber Karin lässt sie noch nicht an sich heran. Das braucht alles seine Zeit.“ Früher ist Fany Knittl noch mit stundenweiser Hilfe ausgekommen. Heute kann sie nicht mehr. Denn Karin muss rund um die Uhr betreut werden und auch in der Nacht gehoben, massiert, umgebettet, abgesaugt werden. Fany Knittl weiß gar nicht mehr, wie es ist, eine Nacht durchzuschlafen.

Begrenzte Zeit
Karin weiß, dass ihr Dasein begrenzt ist, und „sie stellt sich den Himmel schön vor“, sagt die Mutter. Die 26-Jährige hat eigene Vorsorge für ihren Tod getroffen. Das weiße Kleid, mit dem sie begraben werden will, hängt im Kasten, und der weiße Engel, der einmal auf ihrem Grab stehen soll, hält bereits jetzt Wache in ihrem Schlafzimmer.

Fotos: Martin Gnedt

Erschienen im Kurier am 16. Dezember 2007

Anmerkung 2017: Karin trägt seit sechs Jahren das weiße Kleid.

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