Wenn das kein Grund zum Beten ist

Umkehrtrend: Die Kirchen sind wieder voller, weil viele Menschen auf die Wirkung des Gebetes schwören. Was sie bewegt, was sie erhoffen.

Vor einem Seitenaltar der Wiener Karlskirche kniet eine junge Frau, tief in sich versunken. Später erzählt sie, dass sie bereits zwei Fehlgeburten erlitten hatte. „Ich wünsche mir ein Kind, und dafür bete ich.“ In der Pfarrkirche Hietzing sitzt ganz hinten eine alte Frau und wartet auf den Beginn der Abendandacht. „Ich bin gerne da, weil ich hier am besten an meine Toten denken kann. Ich habe niemanden mehr.“ Im kühlen Stephansdom versucht eine Frau um die 40 zur Ruhe zu kommen. „Das Gebet hilft mir dabei, es gibt mir Halt und ist meine Art von Meditation.“ Ein konkretes Ziel hat sie auch: Sie will endlich mit dem Mann zusammenkommen, den sie schon so lange liebt. „Darum bitte ich“, sagt sie.

Es gehen wieder mehr Menschen in die Kirchen, um zu beten, zu weinen, Trost zu suchen, Hoffnung zu finden, zu bitten oder zu danken. Spiritualität steht in unserer hektischen Zeit wieder hoch im Kurs.
Viele Kirchen sind wegen Diebstahlsgefahr außerhalb der Gottesdienste fest verriegelt, aber jene, die geöffnet sind, haben großen Zustrom. „Ich bemühe mich um missionarische Offenheit, ich will die Menschen nicht vereinnahmen, sondern sie dort abholen, wo sie sind“, sagt Toni Faber, seit zehn Jahren Dompfarrer zu St. Stephan. „Die Türen der Kirche sind viel offener, als gemeinhin gedacht wird.“

Barbara und Bernward Krone sind seit Kurzem verheiratet. Der Architekt und die Kindergärtnerin haben für sich den Glauben neu entdeckt. „Mit dem Gebet trete ich in Beziehung mit Gott. Das kann in der Stille sein, in dem, was man tut oder in dem, was man sagt“, erklärt er. „Zum Gottesdienst kommen wir, weil es eine gute Gelegenheit ist, mit anderen um etwas zu bitten oder sich für etwas Bestimmtes zu bedanken.“

Zuspruch
Im Stephansdom können Besucher praktisch rund um die Uhr Einkehr halten, das Beicht- und Aussprachezimmer ist von 7 bis 22 in Betrieb. Frequentiert wird es von Gläubigen, Suchenden und Verzweifelten. Manche kommen, weil sie endlich jemanden zum Reden brauchen – und andere, weil sie sich vom seelischen Druck befreien wollen. „Auch Menschen, die in schwierigen, entwürdigenden Berufen arbeiten und ihr Herz ausschütten, erhalten von uns Zuspruch“, sagt der 45-jährige Toni Faber. „Ich bin nicht so gern im Sprechzimmer, aber alle vier, fünf Wochen geh’ ich halt beichten“, sagt die 82- jährige Hermine Kokoschik, eine der Säulen der Pfarre St. Stephan. Sie hilft, wo immer sie kann – bei allen Arbeiten, die in einer Pfarrgemeinde anfallen. „Aber seit ich mir das Hüftgelenk gebrochen hab’, machen meine Beine nicht mehr so mit, deshalb bin ich jetzt eben mehr fürs Gebet da“. Frau Kokoschik betet für ihre Lieben und ihre Toten – und auch „allgemein“, wie sie sagt. Für die Priester etwa, „weil die brauchen das ja auch. Und für die Kranken und die armen Seelen.“ Für sie spricht sie Vaterunser, Avemarias und selbst verfasste Gebete.
Hermine Kokoschik weiß nicht, wie oft sie schon im Dom war. Seit Kriegsende – als noch alles zerstört war – fährt sie drei, vier Mal in der Woche vom 10. Bezirk in die Innenstadt. Ihr Mann schimpft manchmal mit ihr, weil er sich Sorgen macht, wenn sie alleine unterwegs ist. „Der Dom ist mein Heiligtum. Er zieht die Menschen an. Er holt sie sich.“

Wunschzettel
Als echter Segen erweist sich die Fürbittbox, eine Neueinführung im Stephansdom. Jeder, dem danach ist, kann eine Bitte deponieren. Hunderte Anliegen sind es, die Woche für Woche darin landen, die sich um Gesundheit, Kindersegen, Liebesglück, Liebesleid, Geldsorgen oder Karriere drehen. „Diese Anliegen nehmen wir ganz bewusst alle vierzehn Tage in die Gebetsstunde eines Gottesdienstes hinein“, sagt Faber. Zuletzt wurde für die Genesung der krebskranken Elisabeth
gebetet, die zwei kleine Kinder zu versorgen hat; für mehrere Arbeitslose, dass sie wieder einen Job bekommen und auch für Monika, die sich wünscht, dass ihr Liebster endlich aus dem Gefängnis kommt, damit sie ihn heiraten kann.
Eine weitere Neueinführung des Dompfarrers ist die monatliche Messe für Leidende und Kranke, bei der jeder zum persönlichen Gespräch mit den Priestern eingeladen ist. Faber: „Wir legen den Gläubigen die Hand auf und fragen sie, wofür wir für sie beten sollen oder für wen. Ich bin natürlich kein Wunderheiler, aber in der Bibel steht: Betet füreinander und legt einander die Hände auf.“

Andrang
Die Krankenmesse dauert ziemlich lang, der Andrang vor dem Altar ist groß. Toni Faber ist mit zwei Kollegen im Einsatz. Eine, die sich ihren Segen geholt hat, ist Helene Hascher. „Beten hilft eben. Eine Studie besagt, dass Patienten, für die gebetet wird, schneller gesund werden als andere“, so die ehemalige Lehrerin. „Und auch Schülern tut es gut. Sie lernen dann besser und leichter.“ Ein Mann in Motorradkluft verlässt mit strahlendem Gesicht den Altar. Wofür er denn gebetet habe? „Ich habe mich bedankt, dass ich 60 werden durfte. Ich habe nämlich vor fünf Jahren einen schweren Unfall gehabt und nur knapp überlebt“, erzählt Rudolf Wagner. „Seither ist für mich der Glaube an Gott das Wichtigste.“ Und erst recht seit Ostern. Da brachte seine Tochter Zwillinge zur Welt. „Und das Schönste daran, dass meine 82-jährige Mutter das erleben darf. Wenn das kein Grund zum Beten ist?“
Solche Erfahrungen bringen verlorene Schäfchen oft wieder zur Kirche zurück. „Ich selbst bin ja deswegen Priester geworden, weil ich mit 18 eine Diagnose bekam, nach der ich nur noch zwei, drei Jahre zu leben gehabt hätte“, erzählt Faber. Vor einem halben Jahr musste er wegen eines Bauchspeicheldrüsen-Leidens ins Spital. „Ich bin wieder gesund– und das macht mich dankbar und demütig. Es ist aber nicht mein einziges Bemühen, möglichst gesund zu sterben. Mein Lebensziel ist, das, was mir im Leben verbleibt, so zu nützen, dass ich mich vor Gott, den anderen und mir selbst in den Spiegel schauen kann.“

Fotos: Benedikt Loebell

Erschienen im Kurier am 22. Juli 2007

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