Viel zu sehen am See

Erschienen in „Servus in Stadt&Land“, Ausgabe September 2016
Fotos: Marco Rossi

In der Unendlichkeit der Steppenlandschaft am Rande des Neusiedler Sees gibt’s ordentlich viel zum Schauen. Hier haben außergewöhnliche Tiere und Pflanzen ihre Heimat gefunden. Und ganz besondere Menschen.

Das Burgenland ohne Seewinkel ist wie Tirol ohne Berge. „Es gibt kein zweites Gebiet auf dem Kontinent wie dieses hier“, schwärmt Alois Lang und deutet mit ausgebreiteten Armen auf „seinen“ Nationalpark. Das im Sonnenlicht glitzernde Wasser des Neusiedler Sees mit seinem mächtigen Schilfgürtel breitet sich unter uns aus. An den Rändern die weiß blitzenden Salzlacken und rundherum das endlose Grün und Braun der Steppenlandschaft. „Da schau, da hinten grasen die Graurinder und dort die ungarischen Schafe. Und da vorne, das ist ein Säbelschnäbler“, sagt Alois, der auf dem Aussichtsturm, den wir erklommen haben, Ferngläser verteilt.

Man kann hier weit sehen – fast bis ans Ende der Welt. Auf jeden Fall aber bis Ungarn. „Es ist ein Grenzgebiet, beeinflusst von den Alpen und der  ungarischen Tiefebene, die ja das westlichste Fenster zu Asien ist“, so der Nationalparkführer. Hier herrschen paradiesische Verhältnisse für Tiere. Der Weg in diesen Himmel der Natur führt direkt durch die „Hölle“. So heißt der Landstrich, in dem wir uns gerade befinden und so viel zu schauen haben und von wo aus es dann zur Langen Lacke weitergeht. Stets auf Wegen, die entlang des Seeufers angelegt sind.

Um Vögel auf Futtersuche zu beobachten, brauchen wir von den Hochständen aus nur nach unten zu schauen: auf die zierlichen Stelzenläufer mit ihren endlos langen rosafarbenen Beinchen – sie bewegen sich, als würden sie auf dem Wasser stolzieren. Über ihnen Möwen und Seeschwalben, ein Stückchen weiter eine Graugans-Großfamilie, die sich laut schnatternd ins Schilf verdrückt. Allein 350 Vogelarten kommen hier vor: Uferschnepfe, Seeregenpfeifer oder Rotschenkel und all jene, die ein „rohr“ in ihrem Namen führen. Schilfrohr- und Drosselrohrsänger oder Rohrdommel und Rohrweihe. Und dazwischen immer wieder die faszinierenden grauen Rinder. Sie haben die Aufgabe zu „mähen“, damit sich das Schilf auf der Landseite nicht zu sehr ausbreitet und wertvoller Lebensraum für Tiere und Pflanzen erhalten bleibt. Das wissen auch weiße Esel und Kaiseradler zu schätzen.

MUSEUM MIT DOKTORTITEL
Mönchhof ohne Dorfmuseum ist wie eine Gemeinde ohne Häuser. Es ist kein Heimatmuseum, sondern ein Dorf im Dorf. Josef Haubenwallner hatte von Kindheit an ein Faible für alte Sachen. Was andere wegwarfen, bewahrte er – Heiligenbildchen, Hausrat, ja ganze Werkstätten. Es reichte nicht, ein Museumsgebäude zu errichten, es mussten mehrere Häuser her. Mit der Zeit entstand ein ganzes Dorf inklusive Schule, Kino, Gemeindeamt, Feuerwehr, Friseursalon, Post, Mühle, Schmiede – und Kirche. Jedes Mal, wenn in der Gegend ein altersschwaches Gebäude abgetragen wurde, war Josef zur Stelle und errichtete es originalgetreu auf eigenem Grund. „Das Leben hier war früher hart“, sagt der 65-Jährige. In seinem Dorfmuseum kann man nachvollziehen, wie es den Menschen damals erging. „Es ist ein langsames, gastfreundliches Museum“, sagt Josefs Ehefrau Christine mit einem Lächeln. Am einladendsten ist das Wirtshaus, in dem sich Besucher an Grammelpogatschen und Wasserkipferln laben können. „Es stand früher in Mönchhof und ist samt seiner Einrichtung wieder so aufgebaut worden.“ Und noch etwas: Das Museum ist wissenschaftlich erforscht. Es wurde von Studierenden der Europäischen Volkskunde vermessen, sämtliche Einrichtungen und Gegenstände sind katalogisiert. Ein Dorfmuseum mit Doktortitel also – und das einzigartige Lebenswerk von Josef und Christine.

MIT DEM ROHRWOLF INS SCHILF
Der Neusiedler See ohne Schilf ist wie ein Meer ohne Salz. Schrtt, schrtt, schrtt – pflügt sich eine Art Mähmaschine durchs Dickicht des üppigen Schilfwaldes. In diesem Riesendschungel mit meterhohen Rohren können sich Nichteingeweihte rasch verirren. Erwin Sumalowitsch nicht. Der 60-jährige Schilfschneider, im Volksmund „Rohrwolf“ genannt, kennt „sein“ Gebiet wie kein anderer. Schließlich ist er schon als Bub mit seinem Vater ins Schilf gegangen. Erntezeit ist von November bis März. Dann fährt er raus mit seiner Erntemaschine, mit der er das robuste Schilf schneidet und bündelt. Das braucht viel Kraft. „Bleibt das Schilf stehen und wird es erst im nächsten Jahr geschnitten, ist es alt, und ich kann es nicht mehr verkaufen. Dann war die Schinderei vergebens“, sagt Erwin, nimmt einen Schilfbund und erklärt, was man damit alles machen kann. Etwa das Dach decken, was im Burgenland noch häufig vorkommt. Schilf sei ideal für die Isolierung von Gebäuden, besser als Plastik oder Styropor, sagt er. Es wird auch für Sichtschutzmatten und Dämmplatten verwendet.

BEIM KRACHER IM KELLER
Das Burgenland ohne Wein ist wie der Neusiedler See ohne Schilf. Zeit also für eine Einkehr in Krachers Weinlaubenhof in Illmitz. Die Süßweine sind es, die Alois Kracher weltweit bekannt machten. „Wir produzieren aber auch trockene Weine wie Muskat Ottonel oder Chardonnay“, sagt Gerhard Kracher, 35, der das Weingut seit dem frühen Tod seines Weinpionier-Vaters im Jahr 2007 leitet. Die Lese dauert bei ihm bis Dezember. Im September werden die Trauben für trockene Weine geerntet, ab Mitte Oktober jene für die Süßweine. Da werden die bereits leicht verschrumpelten Trauben gepflückt und zu Trockenbeerenauslesen gekeltert. Zum Schluss ist der Eiswein dran – dann, wenn es richtig kalt geworden ist. Die Trauben müssen in gefrorenem Zustand geerntet und gepresst werden. „Eine harte Arbeit. Da musst du raus in der Nacht, wenn’s so richtig eisig ist“, sagt Gerhard. An seiner Seite ist seit fünf Jahren Yvonne Ehlers, die es von Hamburg nach Illmitz verschlagen hat. Yvonne, eine ausgebildete Sommelière, schaukelt den Ab-Hof-Verkauf und das ganze Schriftliche – und zwischendurch den kleinen 2-jährigen Luis, der immer mittendrin sein will.

GUTES GEMÜSE UND GROSSES VERTRAUEN
Der Seewinkel ohne Gemüse ist wie ein Gulasch ohne Paprika. „Selbstbedienung“ steht auf der Schultafel in der sperrangelweit offen stehenden Garage, die zum Gemüseladen umfunktioniert wurde. Heute sind Erdäpfel, Zucchini und Pfefferoni ausgeschrieben. Außerdem gibt es jede Menge Paprika, Gurken, Melanzani und Zwiebeln. Inmitten des frischen Angebots steht eine Waage, und an der Wand hängt ein uraltes Postkastl mit der Aufschrift „Kassa“ und „Danke“. Man könnte unbemerkt zugreifen und ohne zu zahlen weggehen. „Tut aber keiner“, sagt Elisabeth Unger, die 50-jährige Besitzerin des Ladens. „Über den Daumen gepeilt geht es sich mit dem Geld immer aus.“ Elisabeth und ihr Mann Heinrich sind Gemüsebauern in Wallern und ziehen vor allem Paprika in allen möglichen Sorten, Formen und Farben. „Ich züchte auch alte Gemüsearten, die oft nicht so ertragreich sind, allerdings herrlich schmecken“, erzählt Heinrich. Um ihr Gemüse und Obst gesund zu halten, setzen die Ungers keine Chemie ein, sondern sorgen dafür, dass Nützlinge den Schädlingen den Garaus machen.
Im Winter wird herumgetüftelt an neuen Pflänzchen und Saatgut. „In unseren Glashäusern wächst alles auf Mutter Erde, ohne künstliche Lösungen und ohne Computersteuerung“, sagt Elisabeth stolz. Ihre zweite Leidenschaft ist das Brot, mit dem sie – gemeinsam mit ihrer Tochter – in der „Naturbackstube“ Furore macht.

NEUER KOCH IM ALTEN HAUS
Frauenkirchen ohne Brauhaus ist wie eine Wallfahrt ohne Pilger. Vis-à-vis der barocken Basilika findet sich das „Alte Brauhaus“, ein weithin bekannter Einkehrgasthof. Und das schon seit das „Virts- & Brayhaus“ von Landesfürst Paul I. Esterházy 1679 erbaut wurde. Der Arkadenhof des Restaurants leuchtet im milden Sonnenlicht, rundum blühender Oleander. Auch Storchengeklapper ist noch zu vernehmen. Die Tische sind fein gedeckt, mit weißen Tüchern und bunten Blumen.
Daniel Hickel ist hier seit März 2015 als Küchenchef am Werk. Gemeinsam mit seiner Frau Katarina hat er das „Alte Brauhaus“ von „Paprikawirtin“ Ilona Püspök in Pacht genommen. „Mit der Übernahme des denkmalgeschützten Gasthofes haben wir uns einen lang ersehnten Berufswunsch erfüllt und sind endlich sesshaft geworden“, sagt Daniel, dessen Blunzenradln, die ungarische Fischsuppe „Halászlé“ und die Hortobagyer Palatschinken sehr beliebt sind. Derzeitiger Renner ist aber der Zwiebelrostbraten. „Ein Traditionsgericht, das nur noch selten auf Speisekarten zu finden ist“, sagt Katarina und weist darauf hin, dass das Wichtigste die frisch gerösteten Zwiebelringe seien.

KLASSISCHER BLAUDRUCK NEU INTERPRETIERT
Das Burgenland ohne Blaudruck ist wie ein Dirndl ohne Schürze. Deshalb sind wir in Illmitz auf der Suche nach der 51-jährigen Ingrid Kiss, von der es heißt, dass sie ganz wild auf den blau-weißen Baumwollstoff sei, aus dem sie Schürzen fertigt – für Frauen und Männer. Früher waren Blaudruckstoffe die charakteristische Basis der Alltags- und Arbeitskleidung im Burgenland. Und durch die Designerin kommt auch die fast vergessene Herrenschürze wieder zu Ehren. Der sogenannte Fiata gehört zur burgenländischen Festtagstracht der Männer, den man bei den Alten noch oft sieht. „Ich will ihn auch für die Jungen attraktiv machen“, sagt Ingrid, die mit ihren Entwürfen eine neue Interpretation des traditionellen Blaudrucks versucht. Entwerfen, Schnittzeichnen und Nähen kann sie als Absolventin einer Modeschule aus dem Effeff. „Für Frauen schneidere ich gerne Schürzen, die ich mit alten Stoffteilen verbinde. So kommen Großmutters alte Bettzeugspitzen oder Klöppeldeckchen zum Einsatz.“

DIE BRÜCKE DER ERINNERUNG
Andau ohne Brücke ist wie ein Ort ohne Geschichte. Die Brücke von Andau ist ein schmaler Holzsteg an der österreichisch-ungarischen Grenze. Berühmtheit erlangte die Brücke, als nach der Zerschlagung des Ungarischen Volksaufstandes im Sommer 1956 mehr als 70.000 Menschen allein über sie ins Burgenland flüchteten – insgesamt flohen damals 200.000 Ungarn nach Österreich. Bis dahin diente das Brücklein den Bauern im Seewinkel als Steg, um zu ihren Feldern zu gelangen, die oft auf beiden Seiten der Grenze lagen. Im November 1956 wurde die Holzbrücke von ungarischen Soldaten gesprengt. Zum Gedenken wurde sie vor 50 Jahren neu errichtet. Auch im Film „Der Bockerer III“ wird der Brücke ein Denkmal gesetzt. Sie wurde zu einem Symbol fürs Überleben. „Wer sie erreicht hat, fand den Weg in die Freiheit“, steht dort heute auf einem Schild. Der Weg zur Brücke, der Fluchtstraße genannt wird, ist etwa zehn Kilometer lang und eine Freiluftgalerie. Hier haben heimische und internationale Künstler Skulpturen und Installationen aufgestellt.

FLEISCH DER GANZ BESONDEREN ART
Das Burgenland ohne Steppenrinder und Mangalitzaschweine ist wie ein Sommer ohne Bienen. Der 53-jährige Fleischermeister Martin Karlo aus Pamhagen ist ziemlich außergewöhnlich: Das Fleisch vom Graurind gibt es nur bei ihm. Wenn diese Spezialität angeboten wird, kommen die Kunden von nah und fern und schlagen zu bei Aufstrichen, Schinken und Braten. Das ist nur selten der Fall, denn es dürfen nur wenige Tiere pro Jahr geschlachtet werden. Das Besondere: Das Fleisch stammt aus biologischer Tierhaltung und ist mager und bekömmlich, denn die Rinder sind ja die ganze Zeit draußen auf der Weide und setzen kein Fett an. Wie das graue Steppenrind ist auch das Mangalitzaschwein selten geworden im pannonischen Raum. Es zählt zu den ältesten Schweinerassen Europas. „Viele Jahre waren Graurinder und Schweine völlig verschwunden, zum Glück wurde für sie im Nationalpark Lebensraum geschaffen und sie konnten wieder angesiedelt werden“, sagt Martins Ehefrau Barbara Karlo, die den Verkauf leitet. Hier ist ziemlich viel los, denn alles in allem bieten die Karlos neben den Spezialitäten auch etwa hundert verschiedene Wurst-, Selch- und Speckvarianten an, die der Meister mit großer Freude in Handarbeit zubereitet. Zur Seite steht ihm seine 22-jährige Tochter Therese, die bereits die Meisterprüfung gemacht hat und den Betrieb einmal übernehmen wird.

DEN AAL WIRD ES NIMMER LANG GEBEN
Der Neusiedler See ohne Fische ist wie eine Weinrebe ohne Trauben. Wenn das Wetter passt und es noch stockfinster ist, sind Emmerich Varga und sein Sohn Hannes bereits bei der Arbeit, so wie einst Großvater und Vater. Das Fischen liegt den Vargas im Blut. Im Neusiedler See finden sich Zander, Wels, Karpfen und Hecht. Beliebt war stets der Aal. „Aber der ist ein Auslaufmodell“, erklärt Emmerich. „Er wurde bisher ausgesetzt, weil er hier nicht laicht. Aber er ist kein heimischer Fisch, deshalb darf man das nicht mehr.“ Die Fische werden abends im eigenen Restaurant in Gols verkocht. Im Herbst ist Hauptfischzeit, da gibt es die größte Auswahl, im Dezember ist Schluss. Wichtig ist auch, die Schonzeiten der jeweiligen Fische, die sich von Februar bis April verteilen, einzuhalten. „Wird ein Zander oder ein Hecht in seiner Schonzeit gefischt, wird er ins Wasser zurückgegeben.“ Damit er für Nachwuchs sorgen kann.

So lebt es sich also im Seewinkel, in dem der Kreislauf der Natur den Takt vorgibt. Und die Menschen richten sich danach, um dieses außergewöhnliche Gebiet für die Nachkommenden zu bewahren.

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