Ein Wiener Unternehmer hat die Krankheit überstanden. Jetzt kämpft er dafür, dass Krebs nicht weiter tabuisiert wird und engagiert sich für andere Patienten.
Ich wäre eigentlich tot. Ich bin ja gestorben, in meinem vorigen Leben. Jetzt habe ich ein neues“, sagt Gerald „Geri“ Rainer. Der 58-Jährige wurde im letzten Moment gerettet. Helga Thurnher musste nach dem Tod ihres Mannes ebenfalls ihr voriges Leben hinter sich lassen – nach 33 Jahren Ehe. Die von ihrem Mann gegründete Selbsthilfegruppe Darmkrebs führt sie seit vier Jahren mit großem Engagement weiter. „Ich bemühe mich besonders um die Angehörigen. Sie stehen oft mehr oder weniger alleine da, wissen nicht, was sie für ihre Krebskranken tun und wie sie reagieren sollen“, sagt sie.
Seit vier Monaten steht ihr Geri Rainer zur Seite. „Nachdem ich meinen Krebs überlebt habe, will ich anderen Mut machen und für Aufklärung sorgen.“ Doktor Rainer, Jurist und Wirtschaftler, ist Unternehmer und Künstler. Er stellt der Selbsthilfegruppe nicht nur einen Teil seiner Zeit, sondern auch ein eigenes Büro an seinem Firmensitz in der Wiener Innenstadt zur Verfügung. „Hier laufen die Fäden zusammen. Wir sind für alle Krebskranken da, sammeln neueste Informationen, beauftragen Übersetzungen für Migranten, sind Bindeglied zwischen Patient und Arzt.“
Diagnose
Glück hatte er, Riesenglück. Es war am 10. Dezember 2009, ein Donnerstag. Gar nicht gut war ihm, und er hatte so ein Ziehen in der Leistengegend. Er ging zu seinem Arzt. „Beim Ultraschall entdeckte er den Tumor unter meinem Rippenbogen und schickte mich zu weiteren Untersuchungen“, erzählt Rainer. Am Freitag stand fest: Hodenkrebs. Der Tumor war nicht direkt im Hoden gewachsen, sondern zwischen Bauchfell und Rückenmuskulatur metastasiert – er drückte stark auf Aorta und Dickdarm. Lebensgefahr. „Der Tumor war größer als meine Faust, hätte man ihn nicht entdeckt, wäre ich wenige Tage später daran gestorben.“ Er war wie gelähmt. „Ich habe Krebs. Ich auch.“ Die Diagnose lautete: Extragonadaler Keimzelltumor, inoperabel. Ähnlich wie bei Radsportler Lance Armstrong. Am Mittwoch begann die Dreifach-Chemotherapie, um den Tumor zu schrumpfen. Nach einer Woche funktionierten Durchblutung und Darm wieder besser. Nach etlichen Chemos war das Karzinom im Mai nur noch so groß wie ein Fingernagel – Geri Rainer konnte operiert werden.
„Ich habe zwar jetzt eine lange Narbe, die aussieht wie ein Zippverschluss, dafür gelte ich als gesund.“ Rainer ging sehr offen mit seiner Erkrankung um. Das erschreckte viele. „Es haben sich einige Leute aus meinem Bekanntenkreis verabschiedet. Andere habe ich ganz brutal aus meinem Leben gebeten.“ Krebs verändert den Menschen. Er weiß dann, was wichtig ist und was nicht. „Ich versuche, im Jetzt zu leben, weil es vielleicht kein Morgen mehr gibt. Ich verschiebe nichts mehr – und lasse mich nicht mehr für etwas einspannen, von dem ich nicht überzeugt bin.“
Für die Selbsthilfegruppe aber sehr gerne. „Ich will aufrütteln und die Menschen aus ihren Löchern hervorlocken. So lange Krebs tabuisiert ist, wird er immer heftiger grassieren“, so Rainer. „Die Heilung wäre viel einfacher, wenn wir nicht allein wären mit dem Krebs.Denn geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Sein Vorbild dabei ist Lance Armstrong, der das gelbe Livestrong-Armband kreierte, mit dem Krebskranke nach außen hin sichtbar unterstützt werden. Geri Rainer trägt es am rechten Handgelenk.
Aufklärung
Helga Thurnher und Geri Rainer finden es schrecklich, dass sich Leute mit ihrem Krebs verstecken und sich dafür schämen. Männer ganz besonders. Sie glauben, dass sie damit Schwäche zeigen würden, ignorieren ihr Leiden oder verheimlichen es. „Das muss sich ändern, über Krebs sollte genauso gesprochen werden wie über jede andere Krankheit. Krebs ist nicht mehr mit Tod verbunden“, sagt Thurnher. Und: „Die Selbsthilfegruppe ist kein Jammerverein, sondern eine Plattform für Patienten und Angehörige.“
Angebot
Jährlich erkranken 5000 Österreicher an Darmkrebs. Neben Aufklärung, Beratung, Telefonsprechstunden, Kursen und Veranstaltungen bietet Thurnher auch einen kostenlosen Besuchsdienst an. Ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen Angehörige in schwierigen Pflegesituationen durch ein paar Stunden Freizeit – für Einkäufe, Behördenwege oder einfach zum Entspannen. „Ich möchte Künstler, Unternehmer, Prominente, Politiker dazu bringen, ihre Vorbildwirkung auszunützen. So wie José Carreras oder Karlheinz Hackl“, betont Rainer. „Wer Krebs hat, soll es zugeben und damit anderen helfen. Denn wenn ein Rockstar, Schauspieler oder Philharmoniker zu seiner Krankheit steht, kommen auch andere besser damit zurecht.“ Die Heimlichtuerei müsse aufhören. Dann könnten kranke und gesunde Menschen endlich offen darüber reden und besser damit umgehen.
Hodenkrebs:
häufig bei jungen Männern
Bösartig
Hodenkrebs ist der häufigste Tumor der 15- bis 35-jährigen Männer. Die Zahl der Hodenkrebs-Erkrankungen ist in den vergangenen 20 Jahren so stark angestiegen wie bei keinem anderen Tumor. Trotzdem ist Hodenkrebs in unserer Gesellschaft noch immer tabu. Und darin liegt die Gefahr: Betroffene lassen sich aus Unwissenheit, Angst und Scham zu spät behandeln. In Österreich erkranken jährlich etwa 300 Männer an Hodenkrebs. Die Bezeichnungen Hodenkrebs, bösartiger Hodentumor und Keimzelltumor meinen in der Regel das Gleiche. Ohne Behandlung ist Hodenkrebs tödlich.
100 Jahre Krebshilfe in Österreich
An einem trüben Novembertag des Jahres 1909 schrieb der Wiener Arzt Julius Hochenegg an seinen Kollegen Anton Eiselsberg: „Die Not unserer Krebskranken wird immer größer, wir müssen etwas tun, um sie zu lindern. Könnten wir nicht zusammenkommen, um darüber zu sprechen?“
Mit diesem Hilferuf beginnt die lange Tradition der Österreichischen Krebshilfe. Sie zählt zu den ältesten der Welt und feiert am 20. Dezember ihr 100-jähriges Bestehen. Sie wurde als „Österreichische Gesellschaft für Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit“ gegründet. Damals schon waren die „umfangreiche Aufklärungsarbeit, Förderung der Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheiten“ wichtigste Ziele. Heute steht die Krebshilfe mit 41 Beratungsstellen in ganz Österreich Patienten und ihren Angehörigen betreuend zur Verfügung. Dank neuester Diagnosemöglichkeiten kann Krebs heute immer früher erkannt werden. Moderne Therapien tragen dazu bei, dass viele Menschen geheilt werden können und ein längeres Leben haben. Die Leistungen der Krebshilfe werden ausschließlich von Spenden finanziert.
Erschienen im Kurier am 21. November 2010