Vom Chaos in den Kinderzimmern

Aufräumen. Ein Reizthema in Familien, das immer wieder für Konflikte sorgt. Weil Eltern unter Ordnung etwas anderes verstehen als Kinder. Wie es trotzdem  geht

Die Stofftiere auf dem Lampenschirm, die frisch gewaschenen T-Shirts im Schmutzwäschekorb,  die Schuhe bei den Pullis im Kasten. Und die vielen Spielsachen? Hübsch durcheinander gewürfelt über den Boden verteilt. So sieht es aus, wenn kleine Kinder aufräumen. „Das ist ganz normal, weil sie das noch nicht können. Von Kindergartenkindern kann man noch keine Ordnung verlangen, vor allem nicht in punkto Kleidung“, sagt KURIER-Family-Coach Martina Leibovici-Mühlberger. „Das ist eine elterliche Agenda. Die Selbstständigkeit damit kommt erst später, so mit zehn. Aber nur, wenn man es den Kindern vorher beibringt.“

Noch nie gab es so viel Spielzeug wie heute. Viele Eltern und Großeltern überschütten die Kinder förmlich damit. Diese unübersichtliche Masse wirkt dann oft erdrückend. „Natürlich  meinen es alle gut und möchten für jede Fähigkeit und für jeden Altersabschnitt das passende Spielzeug schenken. Für die Kinder ist das oft überfordernd“, so die Psychotherapeutin. Sie empfiehlt Eltern, das Kinderzimmer von Vorschulkindern noch nicht als deren alleinigen Freiraum zu betrachten, denn den Kleinen kann man die Organisation ihres Zimmers noch nicht überlassen. Sie verfügen nicht über die Strukturierungsfähigkeiten von Erwachsenen. „Das Kind steht  vom Spie lauf, lässt es  stehen und geht zum nächsten. Wie ein Schmetterling – von Blume zu Blume“,  erklärt Leibovici-Mühlberger. Die Unordnung stört zunächst nicht, sorgt aber dann, wenn das Kind etwas nicht findet, für unkontrollierte Affektausbrüche –für Wut, Ärger und Traurigkeit. „Dem Kind dann zu sagen, dass es eben aufräumen müsse, ist falsch und ungerecht. Es unterbricht weder den Kreislauf noch bessert es die unglückliche Situation, weil das junge Kind einfach noch nicht das Verständnis der Erwachsenen hat.“ 

Spielrituale pflegen Deshalb ist es  besonders wichtig, mit dem Kind die  Rituale rund ums Spiel von klein auf zu erlernen. Ist das Spiel beendet, wird es wieder eingeräumt und an seinem vorgesehenen Platz aufgehoben. „Auf diese Weise sollte man mit dem Kind das gesamte Zimmer strukturieren und Plätze definieren, auf denen Brettspiele, Bauklötze, Puppen, Stofftiere, Fahrzeuge aufbewahrt werden. Dieses Schema wächst nicht von selbst aus dem Kind heraus, das durch die Spielzeugmenge überfordert ist“, sagt der Family-Coach. Hier brauche es einen Erwachsenen, der assistiert–und nicht kopfschüttelnd das Kind wegen seiner Unordnung schilt.

Ordnungssinn vermitteln Das Chaos im Kinderzimmer, unter dem viele Eltern stöhnen, ist eine Erscheinung unserer Konsumgesellschaft, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Früher war das kein Thema .„Natürlich  gab es auch vor dem Zweiten Weltkrieg Spielsachen, aber in einer bewussteren Form. Man hat die Puppe gehabt, den Ball, das Schaukelpferd, den  Reifen, das Fahrrad, den Kreisel und ein paar Gesellschaftsspiele“, so Leibovici-Mühlberger. Und das nur, wenn man in einer wohlhabenden Familie aufwuchs. Kinder mit  Ordnung und Struktur vertraut zu machen, lohnt sich auf jeden Fall. Auch wenn es zwischendurch nicht so gut klappt, weil es Kindern eben nicht wichtig erscheint. „Ordnung ist eine Subkomponente der Disziplin, ein ganz wesentlicher  Aspekt in der Strukturierung und Orientierung der Welt“, so Leibovici-Mühlberger. Wer seinem Kind liebevoll beistehend Ordnungssinn vermittelt, hilft ihm beim Wachstums-und Selbstorganisationsprozess.“

Toleranz beweisen Es gibt unterschiedliche Ordnungsstufen. Sie sind individuell und reichen von extrem penibel bis völlig chaotisch. Welchen Grad an Ordnung Eltern für sinnvoll halten, leben sie tagtäglich ihren Kindern vor. Aber trotzdem: „Kinder haben auf alle Fälle eine eigene Vorstellung von Ordnung. Was Eltern als heilloses Durcheinander bezeichnen, ist für Kinder von großer Bedeutung und Anregung für schöpferische Aktivitäten“, sagt die deutsche Sozialpädagogin Beate Weymann. „Kinder müssen sich frei bewegen dürfen. Permanente Ermahnungen, nicht so laut zu sein, nicht so viel Unordnung herzustellen, sich nicht schmutzig zu machen, Rücksicht auf die Nachbarn und den müden Vater zunehmen, führen zu Verunsicherungen beim Kind und blockieren seinen Tatendrang.“ Ausmusterungswellen in regelmäßigen Abständen halten beide Expertinnen für sinnvoll. Aber nur, wenn sie gemeinsam mit dem Kind initiiert werden. Schließt man es davon aus, kann es passieren, dass man das Lieblingsspielzeug aussortiert. Besonders schlimm, wenn es der abgeliebte Teddy ist, der zwar glatte Stellen und nur mehr ein Auge hat, aber für das Kind unersetzbar ist.

Eintritt verboten Bei den Teenagern ist wieder alles ganz anders. Hier lautet die Devise: Ein Hoch dem Chaos. „Sie sind eine unglaubliche Baustelle – körperlicher und psychischer Natur. Sie müssen gerade den Wechsel vom Kind zum Erwachsenen vollziehen und damit sind extrem anstrengende und fordernde Prozesse verbunden“, sagt der Family-Coach. „Über allem steht Autonomie, die Heranwachsenden wollen selbstständig werden. Das bedeutet auch, dass sie ihre Grenzen selbersetzen. Und der erste Schritt ist logischerweise, dass sie im eigenen Zimmer die eigenen Herrscher sind.“ Die Jugendlichen verbarrikadieren sich, bringen Verbotsschilder an und versperren ihr Reich. Sie wollen sich abgrenzen und anders sein als die Eltern. Sie gehen in den Widerstand.

Perfektes Chaos Im Zimmer türmen sich Berge von Kleidungsstücken, dazwischen kugeln Schulsachen, Zeitschriften, CDs und sonst noch was herum. Der Papierkorb quillt über, darunter auch Essensreste, die vor sich hin schimmeln. „ Der Teenager setzt eine Provokation, aber nicht weil er böse ist, sondern weil er sich beweisen will, dass er selbstständig ist“, sagt Leibovici-Mühlberger. Kuriosität am Rande: Sprösslinge, die in großer Unordnung aufwachsen, rebellieren in der Pubertät gleichermaßen gegen ihre chaotischen Eltern: Mit penibler Ordnung und Sauberkeit. Autonomie akzeptieren Das Chaos im Teenagerzimmer ist ewiger Konfliktstoff und auch irritierend für die Eltern. Sie sollten versuchen, die Unordnung nicht persönlich zu nehmen. Erfahrene Mütter und Väter wissen, dass hier nur Gelassenheit und Verständnis helfen. Augen zu–und durch. Und nur nicht ausrasten, mahnen oder meckern. „Das führt zur Verhärtung der Fronten“, so der Family-Coach. „Wichtig, dass der Erwachsene seine Linie behält und vermittelt, dass er so nicht wohnen will, aber das Zimmer des Jugendlichen nicht aufräumen.“ Sozialpädagogin Weymann rät, dort Grenzen zu setzen, „wo hygienische Regeln überschritten werden und die Gesundheit gefährdet ist“. Verdorbene Lebensmittel gehören in den Müll, nasse Kleidung (Trainingsanzug, Handtücher) zum Trocknen oder in die Wäsche. Um das zu erreichen, kommt es auf den richtigen Ton an. Der sollte nicht fordernd und dominant, sondern ruhig und sachlich sein. Beispielsweise den Heranwachsenden auf das schimmelige Pizzastück ansprechen und hinweisen, wie ungesund das für ihn ist –  aber man lässt es dort. „Vielleicht wird der Teenager nicht sofort aufhüpfen und der Aufforderung nachkommen, aber zwei Stunden später sind die Reste entsorgt“ , so Leibovici-Mühlberger. „Mit diesem Verhalten akzeptiert der Erwachsene die Autonomie und stellt sich sozusagen stützend zur Seite. Eine enorme Anstrengung und Herausforderung für Eltern.“

Hilfe anbieten Früher oder später leiden Mädchen und Burschen unter ihrem eigenen Chaos. Wo ist mein gelber Spitzen-BH, wo mein blaues T-Shirt? Das sind Situationen, die Eltern nützen können. „Aber nicht, indem sie ihrem Spross schadenfroh  dessen Unordnung vorwerfen ,sondern ihm vorschlagen, gemeinsam ein wenig aufzuräumen und den Riesenberg abzubauen.“

Grenzlinien ziehen Breiten sich Jugendliche in der ganzen Wohnung aus und lassen überall alles liegen und stehen, können sehr wohl Grenzen gesetzt werden. „Hat der Teenager ohnehin sein eigenes Reich, in dem er tun kann, was er will, sollte er sich an die Regeln halten, die in den Gemeinschaftsräumen herrschen“, meint Leibovici-Mühlberger. Besonders an jene in der Küche. Wenn gutes  Zureden nicht hilft und Tochter oder Sohn sich nicht daran halten, wird alles, was außerhalb ihres Zimmers herumliegt,  einkassiert. Man nehme einen Wäschekorb, deponiere darin die Utensilien und stelle diesen im Zimmer des Teenagers ab.

 

Tipps: So bringen Sie Ihrem Kind Ordnungssinn bei

Gemeinsamkeit Wenn man selbst keine Lust hat, lässt sich auch das Kind nicht motivieren. Erfahrungsgemäß machen kleine Kinder gerne mit, wenn Eltern  mit dem  Aufräumen anfangen. Am besten, die Kinder von klein auf„ mithelfen“ zu lassen. Wichtig: Man muss ihnen genau zeigen, wie bestimmte Dinge erledigt werden. Falsch: Alleine aufzuräumen.

Zeitraum Das Kind benötigt etwas Zeit, um sein Spiel, in dem es so vertieft ist, zu beenden. Deshalb sollte es nicht gezwungen werden, sofort mit dem Aufräumen zu beginnen. 15 Minuten sollte man dem Kind einräumen, rät Beate Weymann. Kleinere Kinder benötigen mehr Zeit, weil sie noch überlegen müssen, wo welches Teil hingehört. Auf diese Weise zeigen Eltern Verständnis für ihr Kind und vertiefen die Beziehung.

Regelmäßigkeit Keine großen Zeitspannen vergehen lassen, damit sich das ganz große Chaos erst gar nicht entwickeln kann.  Hilfreich sind auch Spielkisten, bei denen das Ein-und Ausräumen nicht unnötig schwer fällt.

Gerechtigkeit Sind andere Kinder zu Besuch, sollten diese beim Aufräumen mittun. So empfindet es das eigene Kind später nicht als ungerecht, wenn es die Sachen der anderen wegräumen muss. Übrigens: Flotte Musik  steigert die Motivation. Damit lassen sich Kinder eher dazu bewegen, weil der Tätigkeit der Ernst genommen wird.

Auswahl Es ist günstig, Kindern nur eine Auswahl von ihrem Spielzeug zu überlassen und dann wieder öfter auszuwechseln. Nicht alle Bilderbücher oder Puzzles stehen parat, sondern nur die neueren und jene, die zur Jahreszeit passen. Zuviel Spielzeug erschwert es Kindern, sich ausdauernd mit einer Sache zu beschäftigen.

Toleranz Letztendlich, so Beate Weymann, muss man einsehen, dass Kinder sich in ihrem Reich wohlfühlen sollen und dürfen. Dazu gehört auch, dass ihre Ordnungsregeln und ihre Vorlieben für das  Kinderzimmer gelten.

Noch mehr Infos im Internet: www.familienhandbuch.de

 

Erschienen im KURIER, am 14. Februar 2010