Wer ist hier der Chef?

Erschienen in „Servus in Stadt&Land“, Ausgabe Juni 2016
Fotos: Marco Rossi

Im Salzburger Rauris wird jedes Jahr im Juni der Auftrieb der Noriker-Hengste gefeiert. Ehe es rauf auf die Alm geht, wird ein Leittier erkoren, das den Sommer über hoch droben das Sagen hat und über die Herde wacht.

Die Wagen mit den Anhängern sind vor der Arena aufgereiht. Darin die Hengste, die sich schon aufwärmen und einstimmen auf das, was folgen wird. Da dröhnt ein Wiehern und Schnauben aus den Pferdeboxen. Es wird gepoltert und getreten, dass die Gefährte nur so wackeln. Ganz normal für die Halter, die sich daneben in aller Seelenruhe miteinander unterhalten. Hin und wieder ruft einer „Ruhig, ganz ruhig, Nero“ oder „Gleich geht’s los, Zitan“.

Hoch über dem salzburgischen Rauris, beim Alpengasthof Bodenhaus, findet jedes Jahr Ende Juni der traditionelle Noriker-Hengstauftrieb statt. Ehe es auf die Alm geht, muss ein Leittier ermittelt werden, damit es da oben nicht drunter und drüber geht.

Endlich ist es so weit, die Männer führen ihre auf dem Hinterteil nummerierten Schützlinge festen Griffs zum Abwiegen. Die Nummer 1 wird aufgerufen. Es ist der 820 Kilo schwere Heiko Schaunitz XVII, ein fünfjähriger Rappe, der mit Markus Rainer die Arena betritt. Eine mit massiven Holzstämmen eingezäunte Koppel, umgeben von unzähligen Zuschauern. Neun weitere Hengste folgen. Jedes Pferd wird mit seinem Namen, dem seiner Eltern und des Züchters, mit seinem Gewicht und der Anzahl der Nachkommen präsentiert.

Dann werden sich die zehn Rösser untereinander ausmachen, wer der Boss ist. Zum Gelingen der Sommerfrische muss ein Alphatier erkoren werden, dem sich alle anderen bedingungslos unterordnen. „Das braucht es, damit einer die Obhut über die Herde übernimmt und alles geordnet und verletzungsfrei abläuft“, sagt Johann Wieser, Geschäftsführer der Salzburger Pferdealmgenossenschaft Grieswies.

Die Pferdehalter verlassen jetzt das Gelände und Johann Wieser gibt den Ring frei. In den Ecken haben junge Männer Aufstellung genommen, die wie Schiedsrichter agieren, um allzu viel Wildheit mit Zurufen und Gebärden im Zaum zu halten.

RING FREI FÜR DEN KAMPF

Das Spektakel beginnt. Die zehn stolzen Hengste fixieren einander, laufen im Kreis, sondieren die Lage. Es herrscht wütendes Gewieher und Getrampel. Mit wilden Blicken fordern sie einander heraus, bilden Gruppen und versuchen zunächst, Kopf an Kopf und Auge in Auge den Gegner zu überrumpeln. Weiter geht’s mit beeindruckendem Aufbäumen und artistischem Stehen auf den Hinterhufen. Wuchtige Rempler werden ausgeteilt. Keiner bleibt dem anderen etwas schuldig. Gerade schlägt Nummer 6 der Nummer 3 mit einem heftigen Ruck den Kopf gegen die rechte Flanke. Der Geschlagene dreht sich blitzschnell um und revanchiert sich entsprechend. „Autsch“, ruft eine Zuschauerin und zuckt zusammen, während Nummer 6 zur Beruhigung ins Abseits trottet.

WENDIG, FLINK, EINFALLSREICH

Die anderen Pferde machen unbeirrt weiter und schlagen immer wieder einmal kraftvoll nach hinten aus. Unglaublich, was diese mächtigen Tiere draufhaben, wie wendig, flink und einfallsreich sie sind. Jetzt liegt sogar eines auf dem Boden. „Das schaut aber nicht gut aus“, sagt ein Zuschauer besorgt. „Ui, das hat wehgetan“, ein anderer. Nein, zum Glück nicht. Wutschnaubend richtet sich das Ross wieder auf und geht auf den Kontrahenten los, dass die Erde nur so bebt.

Ganz ohne Blessuren geht es aber nicht ab. Kleine Verletzungen können schon vorkommen. Deshalb hält ein Tierarzt alles Nötige parat, um rasch behandeln zu können. Die meisten Pferde scheinen unversehrt geblieben zu sein, nur Heiko mit der Nummer 1 blutet unter dem Auge.

DER TAG DAVOR

Wir besuchen den Rauriser Landwirt Markus Rainer, der neben der Haltung von Pinzgauer Milchkühen, Hühnern und Schweinen auch eine Pferdezucht samt Deckstation betreibt. Er stellt uns den eingangs erwähnten Noriker Heiko vor.

Es liegt etwas in der Luft, Heiko ist sehr unruhig am Vorabend des großen Tages. „Er spürt, dass es jetzt anders wird. Ich glaub, er weiß genau, dass es wieder auf die Alm geht“, sagt der 41-jährige Züchter. „Wir haben ihn mit Shampoo gewaschen und von oben bis unten geputzt. Außerdem sind keine Stuten mehr da, die sind schon alle auf der Alm. Und zum Decken kommt auch keine mehr. Das ist jetzt vorbei.“ Heiko hat seine Leistung erbracht und mehr als 20 Stuten in die Trächtigkeit versetzt. Die Ferien auf der Alm sind wohlverdient und außerdem das beste Training für Gelenke, Muskeln und Abwehrkraft.

Die Deckarbeit beginnt am 20. März und endet am 20. Juni. In dieser Zeit sorgen die Noriker-Hengste per Natursprung für Nachwuchs. 49 sind es im Land Salzburg. Die Besitzer kommen mit ihren Stuten innerhalb von ein paar Tagen meist zweimal auf die Deckstation, um sicherzugehen, dass es auch wirklich einschlägt. Nach elf Monaten kommen dann im Frühjahr die Fohlen zur Welt – 520 waren es zuletzt.

Mit dem Blick auf Heiko erklärt Markus Rainer, dass „die Tiere ja so gescheit sind. Sie glauben nicht, wie heikel so ein Hengst sein kann.“ Deshalb müsse er die Deckarbeit auf drei Stuten am Tag beschränken, damit Heiko nicht die Lust verliert. „Sind es mehr, wird er zu wählerisch und verweigert sich bei einer älteren Stute, weil er weiß, dass er später noch eine junge kriegen kann. Ist das Angebot zu groß, trifft er beinhart eine Auswahl.“

JA NICHT ZU NAHE KOMMEN

Die Hengste, die zum Teil von den Züchtern an die Deckstationen verliehen sind, werden alle vier, fünf Jahre getauscht, damit wieder frisches Blut in die Gegend kommt. So wechselt etwa ein Rauriser Hengst nach Kärnten und der Kärntner nach Rauris. Heiko hat die vierte Saison bei den Rainers verbracht  und wird noch ein Jahr hierbleiben. So wie sein Vorgänger, der Markus Rainer im Mai 2011 ganz schlimm erwischt hat. Der Hengst hat ausgeschlagen und ihn mit voller Wucht mit beiden Hufen getroffen. Eine schwere Kopfverletzung war die Folge, jetzt hat er unter seiner Stirn eine Platte. „Drei Wochen war ich im Tiefschlaf, keiner wusste, wie es mit mir weitergehen wird. Zum Glück hat  das Gehirn nichts abgekriegt.“ Und trotzdem macht er weiter? „Ja sicher, das Pferd konnte nichts dafür. Es passierte während des Deckvorganges. Ich hab mit dem Stutenbesitzer geratscht und bin dem Geschehen zu nahe gekommen. Mit Tieren zu arbeiten ist eben kein Wunschkonzert.“

Dass Heiko am nächsten Tag als Leithengst hervorgehen könnte, glaubt Markus Rainer eher nicht. „Das wird meist ein älterer Bursche.“ Außerdem sei ihm das egal. „Hauptsache, er bleibt gesund und erholt sich auf der Alm. Und ich hoffe, dass alles gut geht da oben, dass er sich nicht verletzt und dass keine grauslichen Unwetter kommen – und ihn kein Blitz erwischt.“

Richtig gefährlich wird es am nächsten Tag in der Arena eigentlich nie. Die Hengste wissen offenbar, dass es um Machtdemonstration geht, und auch, wann es genug ist. Sie sind ja in Herden aufgewachsen und kennen die Regeln der Rangordnung. Nach zwei Stunden sind ihre Ermüdungserscheinungen nicht zu übersehen. Die Angriffslust ist verflogen, vereinzelt gehen sie schon friedlich im Kreis.

Schließlich wird der Sieger verkündet. Es ist das majestätische Ross mit der Nummer 4, der siebenjährige Zitan Schaunitz XVI, ein Verwandter Heikos. Jener, der am wenigsten gekämpft und den besten Überblick bewahrt hat. Zitan scheint über den Dingen zu stehen. Deshalb ist er genau der Richtige, der Boss, für die Alm.

Die Koppeltore werden geöffnet und der Almauftrieb beginnt. Angeführt vom Leithengst, wandern die Pferdehalter mit ihren Tieren hinauf auf die Schneeweide, die am Fuß des 3.105 Meter hohen Sonnblicks liegt. Die riesige Weidefläche für die Deckhengste ist solid eingezäunt, die Tiere können nicht entwischen. Nur Heiko ist nicht dabei. Er kommt nach, wenn seine Wunde verarztet ist.

Inzwischen machen sich sieben weitere Hengste für die zweite Runde bereit. Sie werden danach mit ihrem Leittier auf eine andere Alm gehen.

SENNER UND TIERVERSTEHER

Während des Auftriebs macht sich Andreas Koidl, der Verwalter der Grieswies-Genossenschaft, mit den Pferden bekannt, nach denen er ab jetzt zweimal am Tag schauen wird. Er ist mit seiner Frau Sonja und dem fünfjährigen Michael bereits auf die Pirchlalpe auf 1.276 Metern gezogen und ist für 680 Tiere verantwortlich. Neben den Hengsten sind das Kühe, Schafe und Ziegen.

Der Hengstauftrieb, der seit Jahrzehnten zelebriert wird, habe eine Zeitlang auch Tierschützer auf den Plan gerufen, erzählt der 40-jährige Senner. „Wir haben die Kritiker zur Veranstaltung eingeladen. Sie konnten sich vergewissern, dass alles der Natur entspricht, und haben eingesehen, dass es auf der Alm ein Leittier geben muss“, sagt er und tätschelt dabei ein mächtiges Ross.

Andreas Koidl kann gut mit allen Vierbeinern. Oft kommen völlig verstörte und
verängstigte Kühe in seine Obhut. Auf die redet er ganz ruhig ein – und im Nu verändern sie ihr Verhalten. „Man muss mit den Tieren einen ordentlichen Umgang in entsprechendem Ton pflegen. Das wirkt sofort, darauf sprechen sie gut an. Grobe Behandlung gibt’s hier nicht“, so Andreas Koidl, ein richtiger Tierflüsterer.

Die Hengste haben sich jetzt in ihrem Sommerquartier eingerichtet, ihre Menschen den Heimweg angetreten. Andreas Koidl bleibt noch eine Weile auf Beobachtungsposten. Das eine oder andere Pferd zeigt sich noch angriffslustig. Zitan, der Boss unterbindet Reibereien, indem er laut wiehert und wild den Kopf bewegt. Gegen Abend herrscht dann Frieden unter den Hengsten, die sich mit frischem Gras stärken. Jetzt kann sie auch der Senner allein lassen. Aber nur bis zum Morgengrauen, da wird er wieder da sein und schauen, ob Zitan alles im Griff hat.

Vom Arbeitstier zum Freizeitfreund: Der Noriker

Der Noriker ist eine einheimische Pferderasse mit uralter Tradition und gehört auch zu den Tieren im Nationalpark Hohe Tauern. Er ist ein mittelschweres, kräftiges, trittsicheres und ausdauerndes Gebirgskaltblutpferd mit ausgeglichenem Charakter. Das Zuchtgebiet umfasst die Gebirgslagen der österreichischen und deutschen Alpen.

„Der Noriker war einst das Arbeitspferd in der Land- und Forstwirtschaft für den schweren Zug“, sagt Johann Wieser, Geschäftsführer der Salzburger Pferdealmgenossenschaft Grieswies und zuständig für die Zucht. Mit der Technisierung der Landwirtschaft sei aber die Bedeutung der Pferde als Arbeitstiere stark gesunken. 1968 wurden noch 34.510 Stück gezählt. Danach verminderte sich der Bestand auf ein Viertel. Seit einem Tiefststand in den 1980er-Jahren gehe es aber kontinuierlich bergauf. Im Vorjahr waren österreichweit 10.000 Norikerpferde – davon etwa 4.600 eingetragene Zuchtstuten, 200 Deckhengste sowie 1.600 Fohlen – registriert. „Derzeit haben wir geradezu eine Renaissance, weil man dem Pferd eine andere Bedeutung gegeben hat. Man hat den Noriker ein wenig sportlicher und eleganter im Erscheinungstyp und leichtfüßiger im Bewegungsablauf gezüchtet. Mit diesen Eigenschaften und seinem guten Gemüt ist er ideal für Freizeitsport, Reiten, Brauchtum und Kutschenfahrten.“ Die Besonderheit des Norikers liegt in der Vielfalt seiner Farben. Neben den am stärksten vertretenen Rappen, Braunen und Füchsen in unterschiedlichsten Schattierungen können sie getigert oder gescheckt sein. Eine Besonderheit ist der Mohrenkopf oder Blauschimmel. Die Fortpflanzung läuft ausschließlich über Natursprung. Dennoch wird möglichst wenig dem Zufall überlassen. „Wer mit seiner Stute zum Decken fährt, hat ihren natürlichen Zyklus kontrolliert, sodass der Zeitpunkt des Eisprungs möglichst erraten wird und die Stuten nur zwei- bis dreimal im Abstand von zwei Tagen gedeckt werden“, sagt Johann Wieser. Die Zucht ist streng geregelt, auch die Namensgebung. Nur den Vornamen darf sich der Züchter aussuchen, wobei dieser stets mit demselben Anfangsbuchstaben beginnen muss wie der des Vaters. Der Sohn von Zamba etwa heißt Zitan.

Die Hengstlinien

Heute existieren fünf Hengstlinien bei den Norikern. Vulkan, Nero, Diamant, Schaunitz und Elmar. Vulkan ist die zahlenmäßig stärkste Linie. Mehr als 40 Prozent der Noriker gehören ihr an. Sie wurde vom braunen Hengst 13 Vulkan 635, geboren 1887 im Pinzgau, begründet. Die Schaunitz-Linie wiederum geht auf den 1888 in Tirol geborenen Hengst Amor zurück. Namensgeber der Linie war einer seiner beiden Söhne, 255 Schaunitz. Er wurde 1896 geboren.

Pferde aus der Schaunitz-Linie waren in früheren Zeiten bekannt für ihr Temperament und ihr Gangvermögen. Damit liegt der Schaunitz-Typ mit dem aufgerichteten Hals seit einiger Zeit wieder voll im Trend.

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