Wo die Bäume in den Himmel wachsen

Erschienen in „Servus in Stadt&Land“, Ausgabe Mai 2015
Fotos: Philip Platzer

Im Lahnsattler Urwald des Grafen Hoyos erschafft sich die Natur
ihre eigene ungezügelte Welt. In den Steirisch-niederösterreichischen
Kalkalpen leben uralte Baumriesen – und ein 95-jähriger Holzknecht.

Eine Kreuzotter liegt seelenruhig auf dem Schotterweg, der in die Wildnis führt. Als sie uns wahrnimmt, schlängelt sie sich flugs ins Grün. „Braucht’s keine Angst haben, die tut nix“, beruhigt Richard Nutz seine erstarrten Begleiter, mit denen er Richtung Urwald unterwegs ist. „Der taugt es eben in der Sonne, aber gleich werden wir eine andere Klimazone betreten. Der Urwald hat seine eigenen Temperaturen – ist kühl im Sommer und warm im Winter.“

Bis zu 600 Jahre alte Großeltern

Wir marschieren weiter, während uns der 95-jährige Richard Nutz auf den Drei-Generationen-Wald vorbereitet, in dem die Baum-Großeltern bis zu 600, die Kinder um die 200 und die Enkel 50 bis 60 Jahre alt sind. Jeder Urwaldriese bleibt so lange stehen, bis er von allein umfällt, verrottet und auf
seinem Humus wiederum ein neuer wächst. Aber auch das kann locker 100 Jahre dauern.

Der Wald macht alles selbst, er lebt für sich und stirbt für sich. Das modernde Holz liefert Nährstoffe für neues Leben. Für Bäume, Pflanzen und Tiere. Endlich dürfen wir rein in das unberührte Biotop, in den wilden Wald. Es ist kühl und dunkel. Wir schlüpfen in unsere Jacken und stecken die Sonnenbrillen weg. Der Boden hier ist jahrein, jahraus mit braunem Laub bedeckt. Machtvoll stehen darauf Tannen, Fichten, Buchen und Lärchen, und manche ragen mehr als 50 Meter in den Himmel. Zwischen diesen Riesen ruhen ungestört ihre abgebrochenen und umgefallenen Brüder, die wie bizarre Skulpturen kreuz und quer liegend vor sich hin modern. Auf und zwischen ihnen wachsen Moos, Farn, Fuchskraut, Hahnenfuß, Sauerklee, Waldmeister, Schwämme und Schwammerln. Oder gar ein winziges Bäumchen, das eisern ums Überleben kämpft und trotzdem nur selten durchkommt. Die Sonne, die es so dringend braucht, hat es an diesem Ort nämlich nicht so einfach. Immer wieder versucht sie durchzublitzen. Dort, wo die sterbenden Bäume liegen, gelingt es ihr am besten.

Und wie. Neben dem zerbröselnden Holz behaupten sich junge Buchen, die sich buschenartig in frischem Grün dem einfallenden Sonnenlicht entgegenstrecken.

Von den Äxten verschont

Die Waldgegend zwischen dem steirischen Mariazell und dem niederösterreichischen St. Aegyd war undurchdringbare Wildnis. Bis sich 1780 im Ort Lahnsattel verfolgte Protestanten ansiedelten und hier als Holzknechte ihr karges Brot verdienten. Ein besonders schwer zugängliches Stück blieb über all die Jahrhunderte von den Äxten verschont: der Urwald „Neuwald“, der sich über 28 Hektar erstreckt und der Familie Hoyos gehört. Das urtümliche  Paradies steht seit 1905 unter Naturschutz, ein Besuch ist nur unter Aufsicht möglich. Einzig am Rand, am Zellersteig, darf man allein entlangwandern. Den alten Weg, der einst dem Salztransport diente, nehmen heute hauptsächlich Wallfahrer aus dem Burgenland, wenn sie nach Mariazell pilgern.

„Im Urwald hat der Mensch noch nie eingegriffen. Es bleibt alles so, wie die Natur es vorsieht“, erklärt Herr Nutz. Damit Bruder Baum in dem rauen Klima  bis in alle Ewigkeit stehen bleibt, darf er nicht anfällig gegen Wind sein und muss starke Wurzeln haben. Deshalb wachsen hier zu 60 Prozent Tannen, die Tiefwurzler sind, 40 Prozent machen die anderen Arten aus.“ Wobei weiter oben die Lärchen und weiter unten, im wärmeren Klima, die Laubbäume gedeihen. Die Fichte hat es oft schwer in diesem Lebensraum, weil sie ein Flachwurzler ist und leichter fällt als die anderen. „Bei starkem Sturm kann es zu einer Windwurfkatastrophe kommen, weil die Fichten dem Wind leicht zum Opfer fallen können.“

Richard Nutz weiß alles über diesen Wald, kennt jeden Baum und jeden Busch. Er kann genau sagen, welcher Baumjüngling aufkommen wird und welcher nicht, welcher Baum ihn und welchen er noch überleben wird. Der Wald ist sein Lebenselixier, der Ort, an dem er sich die Kraft holt.

Er selbst scheint die Natur einer Tanne zu haben, die nicht so leicht umfällt. Tief verwurzelt steht der alte Mann im Leben. Dabei wäre es vor 25 Jahren fast zu Ende gewesen. „Ich war furchtbar krank und wurde acht Stunden operiert. Man hat mir nur noch zwei Jahre gegeben“, so der 95-Jährige, tätschelt liebevoll einen Baumstamm und lacht. Übrigens, ein ganz natürliches Lächeln, denn „die oberen Zähne sind noch alle meine eigenen“.

Tannen lieben die Nässe

Wir schauen hinauf, wo sich in lichten Höhen die Baumkronen wiegen. Sie scheinen in den Himmel zu wachsen. Und der Waldführer erklärt uns jetzt, warum ein Baum von oben nach unten stirbt: „Weil er das Wasser nicht mehr nach oben pumpen kann. Erste Zeichen sind bergab stehende Äste, die verdorren.“ Wenn eine Tanne abstirbt, verbringt sie aber noch an die 50 Jahre im Stehen ehe es sie umwirft – und weitere 50 im Liegen. Bei einem Baumriesen, der an Altersschwäche stirbt, dauert es also an die 100 Jahre bis er zu Humus geworden ist. Ist es gleichmäßig feucht, dauert es noch länger, weil Nässe Balsam für die Tanne ist und das Vermodern verzögert. Übrigens: Die Tanne gibt das ideale Holz für Wasserbauten.

Wenn der Borkenkäfer kommt

Wir stehen nun vor dem einstigen Prachtexemplar des Waldes – einem mächtigen Stamm. Er gehörte zur 600 Jahre alten Tanne, die am 23. 9. 1993 umgefallen ist. Sie hatte einen Durchmesser von 120 Zentimetern und war 55 Meter hoch. In der Forstwirtschaft gewinnt man von einem Durchschnittsbaum in etwa zwei Festmeter Holz. „Dieser Riese hätte 38 Festmeter gebracht, einen ganzen Holztransporter voll“, sagt Herr Nutz, der seit seinem 14. Lebensjahr im Wald arbeitet. „Nur zwischen 1939 und 1945 nicht. Da musste ich in den Krieg, sonst war ich meiner Lebtag Holzknecht.“

Im Wald groß geworden, weiß Herr Nutz natürlich auch, was diesem Paradies gefährlich werden kann. Der Borkenkäfer zum Beispiel, der gern Fichten befällt. Zum Glück kann sich nicht so leicht ein größerer Schwarm bilden, weil die Schädlinge die Leibspeise der Spechte sind. Vier Arten kommen hier übrigens vor: Bunt-, Grau-, Grün- und Schwarzspecht. Neben ihnen fühlen sich aber auch Auerhahn und Singvögel wohl. Ebenso Dachs, Fuchs, Igel, Fledermaus, Insekten. Und natürlich Hochwild.

Eine andere Gefahr für den Wald ist die Gallwespe. Sie legt ihre Eier auf die Blätter der Buchen, doch die wissen sich zu wehren. Der Baum lässt einfach das befallene Blatt verdorren. Dadurch hat die Wespe keine Nahrung und die Buche keinen Schaden. Eine kluge Taktik, die trotzdem nicht immer erfolgreich ist.

Auch Pilzbefall ist eine Baumkrankheit, er verformt die Holzfaser. Extreme Kälte oder Wärme können dann den Stamm aufreißen. Der reagiert aber sofort mit vermehrter Pechproduktion, füllt den Spalt und repariert sich auf diese Weise selbst.

Langsam bekommen wir immer mehr Einblick in die faszinierende Welt dieses
Dickichts. Herr Nutz zeigt uns nun sogar einen Baum auf Stelzen. „Ein Erfolgsexemplar. Dem ist es gelungen, durch das modernde Holz hindurch Wurzeln zu schlagen.“ Jeder Tannen- oder Fichtenwinzling, der hier anwächst, bekommt erst nach vier Jahren den ersten Seitentrieb. „Deshalb weiß man, wie alt ein neuer Baum ist“, erläutert der Waldführer.

Er erklärt auch gern, wodurch sich Nadelbäume unterscheiden: Die Fichte hat spitze Nadeln in gleichmäßigem Grün. Die der Tanne sind stumpf und weich, die obere Seite ist dunkelgrün, die untere heller. Die Fichte wirft ihre Zapfen als Ganzes ab, Tannenzapfen lösen sich auf.

Ein gesunder Nadelbaum erneuert sich alle sieben Jahre. Beim Abwurf der Nadeln entstehen Säuren, die den Tannen schaden, aber den Buchen als Wachstumshormon dienen. „So entsteht ein Mischwald immer wieder neu. Einmal wachsen die einen Bäume mehr, dann wieder die anderen.“

Der Wald gibt ihm Kraft

Stundenlang könnte Richard Nutz noch über den Urwald reden, aber jetzt ist Mittagszeit, er ist hungrig und will daheim sein, wenn das Essen geliefert wird. Das ist seit sechs Jahren so. Seit dem Tod seiner Frau, mit der er 61 Jahre verheiratet war. „Ich lass aber nur das Essen kommen, sonst mach ich mir den Haushalt selbst“, sagt der 95-Jährige und verabschiedet sich.

Urwaldbesitzer Markus Graf Hoyos:
„Geduld ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Forstwirts“

„Ich liebe diese Gegend, sie hat etwas ganz Eigenes“, sagt der Besitzer des Waldes, Markus Graf Hoyos. Es ist das Gebiet, in dem Anfang des 19.  Jahrhunderts Georg Hubmer, der „Raxkönig“, die Holzwirtschaft für die Grafen Hoyos leitete und Wien mit Brennholz versorgte.

„Wir wissen vieles aus den Lehrbüchern, aber richtig miterleben kann man es nur, wenn so etwas wirklich existiert“, sagt der studierte Forstwirt. „In einem Urwald gibt es verschiedene Phasen. In Lahnsattel kommen wir derzeit in eine Zerfallsphase. Viele Urwaldriesen liegen auf dem Boden oder gehen stehend kaputt, aber daraus entsteht wieder Neues.“ Dieser Kreislauf nützt auch der Fauna, weil sich gerade im Totholz die Spechtlöcher befinden, in denen Vögel nisten können.

Wie in jedem Naturwald wachsen auch im Fichten-Tannen-Buchenwald-Gebiet der Familie Hoyos die Hauptbaumarten je nach Phase unterschiedlich stark. „Derzeit kommt mehr die Buche. Ein wenig auch die Tanne, sofern sie vom Hirsch nicht aufgefressen wird. Bricht der Wald dann großflächiger zusammen, wird auch wieder stärker die Fichte aufkommen, weil sie dann
von oben mehr Licht hat“, erklärt Graf Hoyos. Die Fichte ist ein Halbschattbaum, Buche und Tanne sind Schattbaumarten und brauchen einen
Schirm, damit es zur Verjüngung kommen kann. „Das Wild macht einen selektiven Verbiss und gefährdet speziell die Tannen. Deshalb zählt logischerweise auch der Urwald zum Jagdgebiet.“

Ein einmaliges Erlebnis

Das Wachstum geht sehr langsam. „Aber wenn man Geduld hat, und die ist eine der wichtigsten Eigenschaften für einen Forstwirt, dann sieht man alles mit der Zeit sprießen, auch die Tanne. Mit Geduld regelt sich alles selbst“, so der 54-Jährige.

Eine wirkliche Gefahr sieht Graf Hoyos für seinen Urwald nicht. „Die könnte nur von Menschen ausgehen, die in Horden rücksichtslos durch den Wald marschieren. Dadurch können Bodenverdichtungen entstehen, die der Verjüngung sehr schaden. Ist der Boden dichter, verschwindet das Keimbett, und die Pflanzen können nicht mehr richtig anwachsen.“

Um das zu verhindern und Interessenten dennoch ein einmaliges Urwald-Erlebnis zu ermöglichen, bietet die Forstverwaltung Hoyos Führungen an.

Anmeldungen unter Tel.: +43 2768 2504

Urwälder und Naturwälder in Österreich

In Österreich konnten sich etwa 1.000 Hektar Urwald behaupten – das sind 0,3 Promille der gesamten Waldfläche. Die bedeutenden heimischen Urwälder befinden sich in Niederösterreich, Oberösterreich und Kärnten.

Der Rothwald am Fuße des Dürrensteins ist der größte Urwald Mitteleuropas und umfasst 412 Hektar. Er darf nur unter Aufsicht betreten werden. Der Urwald Dobra im Waldviertel ist nur 12 Hektar groß. Alte Wälder haben sich nur in unzugänglichen Lagen oder aus Liebhaberei des Besitzers halten können.

Ein großer Teil heimischer Naturwälder wird durch das österreichische Naturwaldreservate-Programm bewahrt. Dabei bringen Waldbesitzer ihre Flächen, die forstwirtschaftlich nicht mehr genützt werden dürfen, ein. Derzeit gibt es 195 Reservate, die auf 8.403 Hektar über ganz Österreich verstreut sind. „Hier kommen alle Waldarten vor – Auwälder, Eichen- oder Zirbenwald“, sagt Dr. Georg Frank, Leiter des NWRProgramms. „Ziel ist, ein repräsentatives Netz von Reservaten für die Artenvielfalt aller wichtigen Waldwuchsgebiete zu schaffen.“

 

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